Ukraine: 30 Jahre Unabhängigkeit

 

werden am 24. August erinnert — weit über das Land hinaus. Denn die Ereigniskette, die 1991 zur Auflösung der Sowjetunion führte, hat “welthistorische“ Bedeutung. *1)

Seit 2014 verletzt Russlands Präsident Putin die Souveränität, die Unabhängigkeit und die territoriale Integrität der Ukraine — durch militärische Annexion der Krim und militärische Führung sowie politische Kontrolle der Separatisten in Gebieten der ostukrainischen Regionen Donezk und Luhansk.

Wie sollte der demokratische Westen darauf reagieren?

1. Eine wissenschaftliche Strategieempfehlung.

Der seit 1996 in der Ukraine forschende Winfried Schneider-Deters stellt fest: „Putin wird seinen Anspruch auf Reintegration der Ukraine in die ´Einflusssphäre` Moskaus nicht aufgeben. Diesem Ziel dient der Krieg ´auf kleiner Flamme` im Donbass.“ *2)

Schneider-Deters weist deshalb “strategische Geduld“ zurück, um auf Änderung der Position Russlands nach Abgang des Präsidenten Putin zu warten. *3) Er argumentiert, dass der auf Expansion gerichtete Kurs Putins „seinen Gründer überleben“ könnte, selbst nach der neuen Verfassung Russlands von 2020, die Putin die Präsidentschaft bis zum Jahr 2036 ermöglicht.

In dieser Lage eines langfristig eher unwahrscheinlichen Macht- oder Politikwechsels in Russland erscheine als angemessene Strategie „die Haltung Berlins, bei ´geöffnetem Gesprächsfenster` (Angela Merkel) fest auf der Achtung des internationalen Rechts, im konkreten Fall auf der territorialen Integrität und Souveränität der Ukraine, zu bestehen und dem russischen Anspruch auf die Einbeziehung der Ukraine in die Einflusssphäre Moskaus entgegenzutreten. ´Geduld` als Strategie erscheint nicht angebracht; für Putin gibt es keine Verhandlungslösung.“ *3)

2. Die strategische Position des demokratischen Westens.

Die Außenminister der G7 erklärten am 18. März 2021: *4)

  • Heute, sieben Jahre nach der unzulässigen und rechtswidrigen Annexion der Autonomen Republik Krim und der Stadt Sewastopol durch Russland, bekräftigen wir unser unbeirrbares Eintreten für die Unabhängigkeit, Souveränität und territoriale Unversehrtheit der Ukraine in ihren international anerkannten Grenzen sowie unser klares Bekenntnis hierzu …
  • Ferner treten wir der fortgesetzten Destablisierung der Ukraine durch Russland, insbesondere den Aktivitäten Russlands in „bestimmten Gebieten der Regionen Donezk und Luhansk“ unter Missachtung seiner Verpflichtungen im Rahmen der Minsker Vereinbarungen, mit Entschiedenheit entgegen.
  • Wir rufen die Russische Föderation auf, den Konflikt nicht weiter anzuheizen, indem sie den von ihr unterstützten bewaffneten Verbänden in der Ostukraine finanzielle und militärische Unterstützung leistet und Hunderttausenden ukrainischer Bürgerinnen und Bürger die russische Staatsangehörigkeit verleiht. Die G7 bleibt der Umsetzung von Sanktionen in vollem Umfang verpflichtet.

Die G7-Außenminister wiesen auch die immer wieder vorgebrachte Anmaßung Putins zurück, dass Russland im Rahmen der Minsker Vereinbarungen neben Deutschland und Frankreich als “Mediator“ agiere. Vielmehr stellten sie klar: „Russland ist in der Ostukraine eine Konfliktpartei, kein Vermittler.“ *4)

3. Russlands militär- und geschichtspolitische Aggression

3.1. Militärische Drohung gegen die Ukraine

Im März/April 2021 häuften sich alarmierende Meldungen: *5)

  • Äußerst aggressiv habe Russland der Ukraine den “Untergang“ angedroht, falls sie „den Donbass gewaltsam wieder unter Kontrolle bringen wolle.“
  • Zugleich schätzten Beobachter der USA und der EU, dass Russland seine Streitkräfte nahe der ostukrainischen Grenze zeitweise auf mehr als 100 Tausend Mann verdoppelt und durch Kriegsgerät (Panzer, Raketen, Flugabwehr) verstärkt habe, während die Kämpfe im Donbass verschärft wurden.
  • Russland habe seine Verpflichtung als OSZE-Mitglied verletzt, über Truppenbewegungen zu informieren. Zudem sei das Kriegsgerät in der Nähe der ukrainischen Grenze auch nach dem Teilabzug der Streitkräfte verblieben.

Das Drohpotential gegen die Ukraine hat sich durch diese militärischen Aktionen Russlands unweit der ukrainischen Grenze erhöht, zumal die massiven Truppen- und Materialbewegungen entgegen den Verpflichtungen Russlands als OSZE-Mitglied weder angekündigt noch erklärt wurden.

3.2. Geschichtspolitischer Anspruch Putins gegen die Unabhängigkeit der Ukraine

Mit Datum vom 12. Juli 2021 informierte Präsident Putin die Weltöffentlichkeit in einem umfassenden geschichtspolitischen Beitrag über seine Haltung zur Ukraine. *6) Hier können nur — stark vereinfacht und weitgehend in der offiziellen englischen Version — einige Aussagen wiedergegeben werden, die Souveränität, staatliche Unabhängigkeit und territoriale Integrität der heutigen Ukraine betreffen:   

  • Die Regierung der Ukraine — das seien „those who have today given up the full control of Ukraine to external forces“ — dh. die Kontrolle über das Land sei den “Western powers“ abgetreten und die Ukraine ein “anti-Russia project“ geworden. Putin verwirft damit die Legitimität der Regierungen der Ukraine seit dem Maidan 2014 und benennt die Folgen aus seiner Sicht: „The coup d’état and the subsequent actions of the Kiev authorities inevitably provoked confrontation and civil war.“
  • „The anti-Russia project has been rejected by millions of Ukrainians … the residents of Donetsk and Lugansk took up arms to defend their home, their language and their lives“ — hätte ihnen die Gewalt in den Städten der Ukraine eine andere Wahl gelassen, fragt Putin. 
  • Im „Minsker-Prozess“ bemühten sich Russland, Deutschland und Frankreich “as mediators“ durch eine Einigung mit den Vertretern von Donetsk und Lugansk die territoriale Integrität der Ukraine friedlich wieder herzustellen. Oben wurde dazu die Position der G7-Außenminister referiert, dass Russland in der Ostukraine nicht Mediator, sondern Konfliktpartei sei.
  • „Russia has done everything to stop fratricide“ — denn Putin verwirft „the idea of Ukrainian people as a nation separate from the Russians … For we are one people.“
  • Die derzeitige Regierung der Ukraine rechtfertige die Unabhängigkeit des Landes von Russland durch Verleugnung der gemeinsamen brüderlichen Vergangenheit und ihrer großen politischen und wirtschaftlichen Errungenschaften — mit einer Ausnahme: der Frage der Staatsgrenzen der Ukraine.
  • Dazu verweist Putin auf die „legale Expertise“ des ersten St. Petersburger Bürgermeisters, Anatoly Sobchak, von 1992: Nachdem die Republiken, von denen die Sowjetunion 1922 durch Unions-Vertrag gegründet wurde, diesen Vertrag 1991 aufgehoben hatten, hätten sie in die staatlichen Grenzen zurückkehren müssen, wie sie vor dem Beitritt zur Sowjet-Union 1922 bestanden. „In other words, when you leave, take what you brought with you.“ Aus dieser Sicht Putins ist das legitime Staatsgebiet der Ukraine auf die Grenzen von 1922 reduziert.
  • „We respect the Ukrainian language and traditions. We respect Ukrainians‘ desire to see their country free, safe and prosperous. I am confident that true sovereignty of Ukraine is possible only in partnership with Russia … For we are one people.“

Es gebe keine eigene nationale Identität der Ukrainer, meint Präsident Putin. Er akzeptiert völkerrechtliche Begriffe und Errungenschaften wie die Souveränität, die staatliche und politische Unabhängigkeit sowie die territoriale Integrität der Ukraine offenbar nur dann, wenn sich die Ukraine in enger Partnerschaft Russland anschließt oder, deutlicher gesagt: unterwirft.

Dies würde für die Ukraine bedeuten, der russischen Einflusssphäre beizutreten und auf die Wahl der Freiheit, des Reformweges zu Demokratie und Marktwirtschaft, des Weges in die Europäische Union und der Anbindung an den demokratischen Westen zu verzichten.

4. “Ukraine Is Part of the West“ *7)

Mit diesem Satz hat der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba Putins geschichtspolitischen Anspruch, die Ukraine und ihre Menschen gehörten zu Russland, zurückgewiesen. Mehr noch: Die Ukraine verweigert sich jeder Zugehörigkeit zur Sphäre russischer Dominanz.

Dazu sind vom ukrainischen Staat in den letzten Jahren Entscheidungen getroffen worden, die nicht umkehrbar erscheinen. Diese markieren den sicher schwierigen und langfristigen Reformweg der Ukraine in die Staatengemeinschaft des demokratischen Westens — in die EU und als Kooperationspartner der NATO. *8)

  • Im Juni 2017 beschloss das Parlament der Ukraine Gesetze, die als strategisches Ziel der Außen- und Sicherheitspolitik die Mitgliedschaft in der NATO festlegen. 2019 trat ein entsprechender Verfassungszusatz in Kraft. 
  • 2018 verließ die Ukraine alle noch ohnehin nur nominell bestehenden Einrichtungen der “Gemeinschaft Unabhängiger Staaten“, die nach der Auflösung der Sowjetunion 1991 gegründet worden war. *1)
  • Die EU bewertet die Ukraine als “prioritären Partner“ auch im Rahmen der “östlichen Partnerschaft der EU“: Eine Assoziierungsvereinbarung, einschließlich einer vertieften und umfassenden Freihandelszone zwischen der Ukraine und der EU, trat am 1. September 2017 in Kraft.
  • Im Juni 2020 berief die NATO die Ukraine in den Kreis der Partner, mit denen erweiterte Maßnahmen des Dialogs und der Zusammenarbeit vereinbart werden (Enhanced Opportunities Partner).
  • Im September 2020 genehmigte Staatspräsident Volodymyr Zelenskyy die neue Nationale Sicherheitsstrategie der Ukraine, die vorsieht, eine enge Partnerschaft mit der NATO zu entwickeln und eine Mitgliedschaft in der NATO anzustreben.

5. Ausblick

Drei Jahrzehnte staatlicher Unabhängigkeit haben den Menschen in der Ukraine schwerste Opfer auferlegt. Und trotz alledem folgen sie mit großer Mehrheit ihrem Weg als “Teil des Westens“. Diese noble Standfestigkeit der Ukrainer für die Freiheit und die Demokratie verdient nicht nur Bewunderung, sondern auch Solidarität und massive wirtschaftliche Hilfe, Beratung im Reformprozess und sicherheitspolitische Unterstützung. Dies wurde und wird bereits geleistet — und zahllose Europäer und Amerikaner zeigen ihre Verbundenheit mit den Menschen der Ukraine!

Bietet das langjährige und zähe Eintreten Deutschlands für die umstrittene Gaspipeline Nordstream 2  für Präsident Putin und auch für die Menschen der Russländischen Föderation eine Nutzenperspektive? Gegenüber den riesigen Kosten der militärischen Konflikte, die in national-autoritärem, geopolitischem Hegemoniestreben von Putin begonnen wurden? Ist die Kreml-Führung einer Nutzen-Kosten-Analyse ihrer Machtpolitik zugänglich? Und könnte sie nach Abwägung ihre aggressive Politik gegen die Ukraine und andere Nachbarländer beenden?

Bundeskanzlerin Merkel hat im Gespräch mit US-Präsident Biden am 15. Juli 2021 dessen Hinnahme von Nordstream 2 einleiten können. Im Gegenzug hat die Kanzlerin politische und wirtschaftliche Förderung der Ukraine zugesagt. Es soll ferner erreicht werden, dass die Ukraine Transitland für Erdgas bleiben kann.

Dies ist fraglos auch ein Erfolg, den die Bundeskanzlerin zum Nutzen Präsident Putins und der Russländischen Föderation erreichte. Putin hatte jedoch schon vorher öffentlich auf einer Konferenz am 4. Juli 2021 verkündet: Die Ukraine könne Transitland für Erdgas bleiben, wenn sie “guten Willen“ zeige. 

Dazu stellte Constanze Stelzenmüller fest: “A public slap in the face for Germany“! *9) Und wahrhaftig nicht zuletzt für die Ukraine — zu ihrem 30. Jahrestag der staatlichen Unabhängigkeit am kommenden 24. August 2021.

Deshalb von hier: Herzliche Grüße und Glückwünsche für die Menschen in der Ukraine — für 30 Jahre Kampf und Arbeit, um in Freiheit und Demokratie zu leben!

*1) Diese Ereignisse “welthistorischer“ Bedeutung sind hier kurz wiedergegeben: „Im Gleichschritt mit den meisten anderen Sowjetrepubliken erklärte die Ukrainische Republik im Juli 1990 ihre Souveränität und am 24. August 1991, nach dem gescheiterten Putsch reaktionärer Kräfte in Moskau, ihre Unabhängigkeit und den Austritt aus der Sowjetunion. Am 1. Dezember 1991 stimmten in einem Referendum 90 Prozent der Bevölkerung dafür und wählten gleichzeitig Krawtschuk mit 61 Prozent zum Präsidenten der Ukraine … Wenige Tage später trafen sich die Präsidenten Russlands, Boris Jelzin, Belarus, Stanislau Schuschkewitsch, und der Ukraine und beschlossen die Auflösung der Sowjetunion. Es war Krawtschuk, der den Ausschlag für diesen welthistorischen Akt gab.“ Siehe: Geschichte der Ukraine im Überblick. 3.8.2015; https://m.bpb.de/izpb/209719/geschichte-der-ukraine-im-ueberblick. Ferner: „Die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) wurde am 8. Dezember 1991 als Nachfolgeorganisation der Sowjetunion gegründet, sie dient nominell der Koordination von Handel, Finanzen, der Gesetzgebung und der Sicherheitspolitik der Mitglieder … Die Ukraine trat 2018 aus allen GUS-Organen aus … nach der aus ihrer Sicht „russischen Aggression“ gegen ihre Souveränität.“  Siehe: 12.6.2019. Von: Andreas Heinemann-Grüder, Russland und die internationalen Organisationen. 12.6.2019; https://www.bpb.de/internationales/europa/russland/47969/internationale-organisationen.

*2) Siehe: Drei Fragen an Winfried Schneider-Deters. Der Berliner Wissenschaftsverlag zur Vorstellung des Werkes “Schneider-Deters, Winfried, Ukrainische Schicksalsjahre 2013–2019, Band 1 und 2, erschienen am 15.04.2021; https://www.bwv-verlag.de/ukrainische-schicksalsjahre-schneider-deters. Hinweis RS: Seit fast zwei Jahrzehnten ist Schneider-Deters durch Publikationen über Osteuropa und vor allem über die Ukraine hervorgetreten: Hier sei nur die Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde (DGO) e.V. genannt; auch als Berater zu Fragen Osteuropas wird Schneider-Deters konsultiert, z. B. von der Deutschen Welle. Das neue zweibändige Werk “Ukrainische Schicksalsjahre 2013–2019“ dieses Autors wird sicher ein viel genutzter Referenzrahmen für die Analyse der deutschen und europäischen Ukrainepolitik .

*3) Siehe: Schneider-Deters, Winfried. Ukrainische Schicksalsjahre 2013–2019, Band 1 und 2, erschienen am 15.04.2021. Band 2, S. 862

*4) Erklärung der Außenminister der G7 zur Ukraine. 18. März 2021; https://www.diplomatie.gouv.fr/de/aussenpolitik-frankreichs/landerinformationen-erklarungen/europa/ukraine/article/erklarung-der-aussenminister-der-g7-zur-ukraine-18-03-21 (RS In Auszügen wörtlich zitiert).

*5) Krise an der Grenze zur Ukraine. … Ein Grossaufmarsch russischer Truppen nahe der Grenze zur Ukraine hat starke Besorgnis ausgelöst. Inzwischen spricht Moskau von Rückzug, aber ein Teil des Kriegsmaterials bleibt in der Region. Was ist über die Lage bekannt, und was hat Russland vor? Ein Überblick. Andreas Rüesch; 15.07.2021; https://www.nzz.ch/international/russland-und-ukraine-das-wichtigste-zum-konflikt-im-ueberblick-ld.1613540

*6) Article by Vladimir Putin ”On the Historical Unity of Russians and Ukrainians“. July 12, 2021; http://en.kremlin.ru/events/president/news/66181

*7) Ukraine Is Part of the West. NATO and the EU Should Treat It That Way. Article by Minister of Foreign Affairs of Ukraine Dmytro Kuleba for Foreign Affairs. Ministry of Foreign Affairs of Ukraine, posted 02 August 2021 15:47. INTERNATIONAL ACTIVITY; https://www.kmu.gov.ua/en/news/avtorska-stattya-ministra-zakordonnih-sprav-ukrayini-dmitra-kulebi-dlya-vidannya-foreign-affairs-ssha und in: https://www.foreignaffairs.com/articles/ukraine/2021-08-02/ukraine-part-west

*8) Siehe: NATO. Relations with Ukraine. Last updated: 27 Apr. 2021; https://www.nato.int/cps/en/natolive/topics_37750.htm. Und: EU-Ukraine relations – factsheet. Brussels, 05/10/2020; https://eeas.europa.eu/headquarters/headquarters-homepage_en/4081/%20EU-Ukraine%20relations%20-%20factsheet

*9) Around the halls: What to watch in Biden’s week of summits in Europe. … Constanze Stelzenmüller (@ConStelz), Fritz Stern Chair on Germany and Trans-Atlantic Relations, Center on the United States and Europe: Are U.S.-German relations back on track after all? Monday, June 7, 2021; https://www.brookings.edu/blog/order-from-chaos/2021/06/07/around-the-halls-what-to-watch-in-bidens-week-of-summits-in-europe/