Unser Russlandbild.

Was Nazideutschland den russischen Menschen und ihrem Land zugefügt und zugedacht hatte, darf nie vergessen werden.

Die Aufgabe, dies zu erinnern, und die Aufgabe, Staat, Wirtschaft und Gesellschaft in Russland zu analysieren, dürfen nicht vermengt werden.

Der Dialog zwischen Russlandverstehern und Russlandforschern ist daher nicht einfach, obwohl stets notwendig. Umso mehr als viele Rußlandversteher in dem Land tätig und damit auch nicht frei von persönlichen Interessen sind.

Der Fall Chodorkowski zeigt dies. Am Sonntag im TV-Presseclub fand ein interessanter Dialog dazu statt. Ein Anrufer fragte das TV-Panel, ob Herr Chodorkowski nach deutschem Recht ein Wirtschaftskrimineller sei. Unisono: Gute Frage. Aber nicht beantwortbar, wegen mangelnder rechtlicher Untersuchungen dazu. So etwa Frau Ina Ruck, ARD Moskau.

Gewiss ist Frau Ruck nicht vorzuhalten, dass sie rechtliche Analysen zu den Gerichtsverfahren gegen Herrn Chodorkowski vielleicht nicht näher untersucht hat.

Die Frage des Anrufers hätte überdies relativiert werden können: Herr Chodorkowski sei seit etwa 1986 als Unternehmer tätig gewesen. Als Unternehmer in der Rohstoff- und Finanzwirtschaft habe er in einem nicht nur chaotischen, sondern auch zunehmend korrupten und kriminellen Umfeld die Interessen seiner Unternehmen und der Beschäftigten mit den diesem Umfeld angepassten Methoden verteidigen müssen.

Jedoch ist offensichtlich, dass solche Argumentation absolut nichts mit einer rechtlichen Beurteilung der Gerichtsverfahren gegen Chodorkowski zu tun hätte.

Außerdem gibt es eine intensive rechtspolitische europäische und deutsche Zusammenarbeit mit Russland. Dies bedeutet, dass sich Russland auf dem zentralen Gebiet staatlicher Hoheitsrechte der internationalen Kooperation geöffnet hat. Mit dem Ziel, einen Rechtsstaat aufzubauen.

Und es gibt durchaus auch weltweit fachliche Erörterungen der unternehmerischen Tätigkeit Herrn Chodorkowskis und der in den Gerichtsurteilen benannten Verstöße gegen Gesetze in der Russländischen Föderation.

Die beiden Gerichtsurteile gegen Herrn Chodorkowski beziehen sich auf „betrügerischen Erwerb“ von Firmenbeteiligungen, auf „Steuerbetrug“, „Veruntreuung“ finanzieller Mittel der Yukos-Ölgesellschaft, „Unterschlagung und Veruntreuung von Öl“ sowie „Geldwäsche“ durch unzulässige Gestaltung von Transfer- und Verrechnungspreisen für Öl etc.. *1)

In westlichen Ländern wird auch der angebliche Bruch von Vereinbarungen zwischen Präsident Putin und Chodorkowski als Motiv für einen „politischen Prozess“ angesprochen: Einerseits einer Vereinbarung über politische Zurückhaltung. Angesichts der mehr als dürftigen Wahlergebnisse der von Ch. unterstützten Oppositionsparteien wie Jabloko (1,6 %) wird dieser „Vertrauensbruch“ wenig hergeben, um die Anklagen gegen Ch. zu erklären. *1)

Wichtiger erscheint eine Unternehmenspolitik von Chodorkowski, die 2003 auf Zusammenarbeit mit den und auf Verkauf von Yukos-Teilen „an die US-Öl-Multis Chevron, Exxon, Texaco“ hinauslief. Somit resultiere aus rohstoff- und wirtschaftsstrategischen Interessen Russlands „ein starkes wirtschaftliches Motiv für eine politische Initiierung .. der Strafprozesse durch Putin, um den Zugriff auf das russische Öl zu behalten“. *1)

Im hier angeführten Artikel des Redakteurs Wolfgang Hirth, Rechtsanwalt, wird im Mitteilungsblatt „MHR“ des Hamburger Richtervereins gefragt: „Warum fixieren sich Menschenrechtler gerade auf einen Milliardär, der dem russischen Gemeinwesen ungeheuren Schaden durch Selbstbereicherung zugefügt hat und von dem selbst westliche Fondsmanger schon vor 2003 sagten: „Er war der größte aller Abzocker“ .. ? Chodorkowski selbst spricht vom Gesetz des Dschungels, das er ausgenutzt habe.“ *1)

Das Gerichtsverfahren gegen Chodorkowski war öffentlich; internationale Beobachter konnten teilnehmen. Das deutsche Auswärtige Amt: „Die Bundesregierung … hat den Prozess über die Deutsche Botschaft in Moskau sowie durch Prozessteilnahmen des Menschenrechtsbeauftragten der Bundesregierung, Markus Löning, und des Russlandbeauftragten der Bundesregierung, Andreas Schockenhoff, intensiv verfolgt. Parlamentarier aller Fraktionen des Bundestags haben ebenfalls dem Prozess beigewohnt.“ *1)

Auch Frau Marie Luise Beck, MdB, habe – so kann Hirth verstanden werden – als Prozessbeobachterin zur einseitigen Wahrnehmung in deutschen Medien beigetragen. Insofern ist sie als glaubwürdig angesehene Vertreterin der Menschenrechte in die wirksame public relations-Politik der Partner des einsitzenden Chodorkowski in den westlichen Ländern eingespannt worden.

Die hier zitierte rechtliche Analyse von RA Wolfgang Hirth zieht folgendes Fazit: „Die öffentliche Empörung über die Chodorkowski-Verfahren und die ungerechtfertigte Stilisierung von Chodorkowski zum Menschenrechtshelden sind durch eine Vielzahl von Interessen beeinflusst.“ *1)

Als besonders abstoßender Aspekt wurde in Medien angedeutet, dass die Gerichtsverfahren gegen Herrn Chodorkowski nicht nur politisch, sondern auch antisemitisch motiviert waren.

Dieser Punkt wird auch in einem Beitrag im „Tablet Magazine – Jewish News and Politics …“ aufgegriffen: „When Khodorkovsky was arrested, many, especially in the Jewish press, saw it as an attack against a Jewish businessman, and thus as a reinforcement of pernicious old stereotypes in a country famous for its institutionalized anti-Semitism.“ *2)

Aber auch dieser Artikel referiert zustimmend die folgende Einschätzung angesehener Fachleute über den Unternehmer M. Chodorkowski: „At the turn of the millennium, Khordorkovsky and his fellow oligarchs were seen not as entrepreneurs moving Russia forward, but as a danger to its future development. These oligarchs „threaten Russia’s transition to democracy and free markets,“ wrote Lee S. Wolosky, a former Clinton counter-terrorism official and a professor at Columbia, in a 2000 article in Foreign Affairs. He was not alone in his assessment.“ *2)

Und auch dieser Beitrag zeigt auf, wie wirksam die PR-Kampagne Chodorkowskis selbst aus der Haft heraus war: „By coupling his political writings with a high-octane PR operation, Khodorkovsky has managed to completely obscure the life he led before 2003. He is now a prisoner of conscience, a victim of a rapacious Kremlin, a martyr. Any naysayers who bring up his past as a robber baron are shouted down as Kremlin apologists.“ *2)

Wen wundert es, wenn sich bei uns Bürgern im demokratischen Westen erneut das folgende 90 Jahre alte Rußland-Bild zu verfestigen scheint:

„Russland, mächtig durch sein Gebiet, seine Völker, durch Schätze der Erde, … erlebte, aber ohne allgemeine Teilnahme, Sinn und Entwicklung auf ein höheres Ziel zu. Wenn Keime eines organischen Lebens im russischen Volke lagen, so wurde ihr Wachstum durch besondere Verhältnisse zurückgehalten. Diese bestanden zum Teil vielleicht in dem geographischen Charakter des eintönigen, ungegliederten, massigen Reiches, sodann jedenfalls in einem durchgreifenden Zwiespalt, der Russland zerriss und lähmte, indem die Bürokratie und die russischen Menschen sich fremder als zwei fremde Völker gegenüberstanden. Die Idee des Staatspräsidenten … in welchem das Ganze des Volkes beschlossen ist, so dass er die Unterdrückung einiger oder vieler durch den Machtmissbrauch der Bürokratie nicht duldet, ist … dem russischen Menschen so eingeboren, dass die russischen Menschen inmitten des Elends … nie aufhörten zu glauben, der Staatspräsident halte es mit ihnen gegen die Bürokratie.“ *3) Trifft diese Beobachtung noch heute zu? Wenn das der Fall ist, sind Erwartungen verfrüht, die sich auf ein baldiges Ende der Ära Putin richten.

Die unverzichtbare deutsch-russische Zusammenarbeit für eine „Modernisierungspartnerschaft“ (Außenminister Steinmeier) bedarf eines zeitgemäßen Russlandbildes in der deutschen Bevölkerung. Eines differenzierteren Bildes als das Russland des Bären Wladimir Putin, der wie ein Großer Zar über sein Volk mit „Zuckerbrot und Peitsche“ (Presseclub) herrscht.

Es ist die Verantwortung deutscher Russlandforscher, durch Analysen und Bildungsveranstaltungen für ein realistisches Russlandbild in Deutschland einzutreten.

*1) Wolfgang Hirth, Chodorkowski und der Westen, in: Mitteilungen des Hamburgischen Richtervereins, MHR, 2/15.05. 2011/Seite 13 ff.. In diesem Artikel werden unterschiedliche juristische Beurteilungen des Gerichtsurteils über Chodorkowski erkennbar. So gegenüber einer Analyse von Professor Otto Luchterhandt. Darauf kann hier nicht eingegangen werden. Hier sei nur festgehalten, dass sehr wohl rechtliche Untersuchungen zum Prozess gegen Ch. seit Jahren vorliegen.

*2) Unlikely Martyr: Mikhail Khodorkovsky as Noble Dissident in Putin’s Russia. By Julia Ioffe, May 31, 2011, Tablet Magazine.

*3) Dieses Zitat ist einer Arbeit entnommen, die bereits im Jahre 1923 veröffentlicht wurde. Nur die fett gedruckten Wörter wurden von RS etwas „modernisiert“: z. B. „Staatspräsident“ statt „Zar“, „Bürokratie“ statt „Adel“, „russisches Volk“ statt „leibeigene Bauernschaft“.
Siehe: Ricarda Huch, Michael Bakunin und die Anarchie, Ullstein Buch Nr. 37007, Frankfurt/M, Berlin, Wien 1980, S. 7 f.