Verlieren mit gutem Gefühl …

Das Magazin für politische Kultur, Cicero, verbindet diese Überschrift mit Rolf Mützenich, SPD-Fraktionschef im Bundestag und Wunschkandidat der SPD-Linken für das Amt des Bundeskanzlers. *1) Das reicht …

Jetzt langt es Sozialdemokraten, die noch ein Sensorium für Platz und Rolle der ältesten demokratischen Partei Deutschlands, für politische Kultur und die Wählerschaft der Mitte in Deutschland haben.

Knüpfen wir an beim SPD-Vorwärts — “Großbritannien. 56,2 Prozent im Mitgliederentscheid: Keir Starmer ist neuer Labour-Chef“ *2) — die Antwort der Mitgliedschaft von Labour auf das schlechteste Ergebnis einer Unterhaus-Wahl seit 1935. Diesen massiven Vertrauensverlust bei der Wahl im Dezember 2019 hatte Labours Spitzenkandidat für das Amt des Premierministers, Jeremy Corbyn, zu verantworten.

Der Vorwärts-Beitrag *2) empfiehlt einen “weiterführenden Artikel“, was einlädt, daraus zu zitieren: “Die SPD ist führungslos“. *3) Zugleich sei eingeräumt, dass der Vorwärts den Hinweis auf den “weiterführenden Artikel“ sicher so nicht verstanden wissen wollte.

Immerhin erscheint die SPD insofern “führungslos“, als ihr Kanzlerkandidat für die Bundestagswahl im Herbst 2021 noch nicht benannt ist. Auch wenn von Rolf Mützenich als Wunschkandidat der SPD-Linken viel die Rede ist. Und daher sei dem Ansatz des laut Vorwärts “weiterführenden Artikels“ gefolgt: “Was die SPD von Labour lernen kann.“ *3)

Zumal der SPD-Vorwärts seit Jahren die immer stärkere SPD-Linke fast überschwänglich mit Lob des radikal-linken Ex-Labourchefs Jeremy Corbyn bedient hatte. Worauf beruhte dieser linke Enthusiasmus für Corbyn?

  • 2015 gewann Jeremy Corbyn die partei-interne Wahl zum Labour-Vorsitzenden mit 60 % der Stimmen der Parteimitglieder und zahlender “Unterstützer“, die eine Wahlgebühr entrichteten. Innerhalb eines Jahres hatte sich die Zahl der Labour-Mitglieder mehr als verdoppelt. Labour wurde mitgliederstärkste Partei Westeuropas. *3)
  • 2016 informierte der Vorwärts: “Warum Jeremy Corbyn trotz seiner Fehler der richtige Vorsitzende für Labour ist: Jeremy Corbyn hat sich in der Urwahl durchgesetzt und bleibt Vorsitzender der britischen Labour-Party. Das ist gut so, denn das sozial tief gespaltene England braucht einen wie ihn … Seit 1983 kämpft er als Abgeordneter gegen Kürzungen, für das Gesundheitssystem und Bildung für alle.“ *4)
  • 2017: Zum Bundesparteitag der SPD im Dezember 2017 hieß es im Vorwärts: „Kann Labour-Chef Jeremy Corbyn die SPD inspirieren? Anfang Dezember will die SPD auf ihrem Bundesparteitag Wege aus der Krise diskutieren. Die Kampagne ´#CorbynEinladen!` wirbt dafür, Labour-Chef Jeremy Corbyn als Impulsredner einzuladen.“ *5)
  • 2019: „Der Kurs von Jeremy Corbyn ging … stramm nach links. Labour konnte sich mit diesem neuen Kurs und dem neuen Vorsitzenden deutlich von den Regierungsjahren von Blair und Brown distanzieren, die der Partei mit dem Irakkrieg und dem Beginn der Austeritätspolitik ab 2008 zwei schwere Bürden hinterlassen hatten.“ *3) *6)

Gegenüber diesem ausgeprägten Interesse in linken SPD-Kreisen an Jeremy Corbyn fällt die Information des Vorwärts über Keir Starmer, den neu gewählten Vorsitzenden der britischen Labour-Partei, etwas dünn aus: *2)

  • Starmer gelte als “moderat“, habe gleichwohl „die Rückverstaatlichungspolitik der öffentlichen Daseinsvorsorge des bisherigen Labour-Vorsitzenden Jeremy Corbyn .. stets mitgetragen.“
  • Ob er dessen Linkskurs fortsetzen wird, dürfe jedoch bezweifelt werden. “So oder so sind Starmers Aufgaben als Partei- und Oppositionsführer im Parlament gewaltig.“
  • Keir Starmer ist Sohn einer Krankenschwester und eines Werkzeugmachers. Seinen Vornamen trägt er in Erinnerung an einen der ersten Labour-Abgeordneten im britischen Unterhaus, Keir Hardie.

Der kurze Hinweis, dass Starmer seinen Vornamen zur Erinnerung an die Labour-Legende Keir Hardie (1856 – 1915) trägt, bedarf gerade für die deutsche SPD ergänzender Hinweise: Keir Hardie verstand sich als “Parlamentarier für die Arbeitslosen“, für die Gleichberechtigung der Frauen, für die Demokratie bis hin zur lokalen Ebene. Hardie war ein bis in die heutige Zeit verehrter Vorkämpfer gegen den Kolonialismus, vor allem in Afrika und Indien. Keir Hardie ist als ein Gründervater und als historische Persönlichkeit der britischen Labour-Party auch von deutschen Sozialdemokraten mit Hochachtung zu erinnern. *7)

Über den Wechsel von Jeremy Corbyn zu Keir Starmer im Labour-Vorsitz sollte nach dem jahrelangen Gewese um Corbyn in der SPD-Linken eingehender informiert werden.

Daher erscheint angemessen, hier kurz zu referieren, wie der international renommierte britische Journalist und Schriftsteller Martin Fletcher den neuen Labour-Vorsitzenden Keir Starmer beurteilt *8) — ein Maßstab für die SPD bei kommenden Entscheidungen über ihr Führungspersonal?

  • Keir Starmer habe sich beruflich als Jurist im Range eines “barristers“ ausgezeichnet. In der britischen Rechtsordnung ist dieses wichtige Amt Juristen vorbehalten, die wegen besonderer Befähigung und erwiesener Rechtstreue vor Gericht plädieren dürfen. Aus den Reihen der “barrister“ werden die britischen Richter ausgewählt.
  • Starmers parlamentarischer Stil werde als maßvoll und höflich anerkannt. Politische Angriffe kleide Starmer in eine Rhetorik konstruktiver Kritik, die von herausragender Sachkenntnis geprägt sei, wie er sie auch in seiner Laufbahn als Jurist bewiesen habe.   
  • In einer Zeit akuter nationaler Krise (Brexit, Covid-19, Rezession) zeichne Starmer alles das aus, was Premier Boris Johnson nicht vorweisen könne: Starmer sei anerkannt ernsthaft, ehrlich, verlässlich. Er habe die Fähigkeit bewiesen, sich die kompliziertesten Vorgänge und Vorlagen zu erarbeiten und in politisches Handeln umzusetzen. Hohe Leistung belege seine Hingabe für das britische Gemeinwesen.
  • Starmer habe in kurzer Amtszeit als Labour-Vorsitzender und Oppositionsführer die Neigung des Premiers Boris Johnson entlarvt, gelegentlich zu schwadronieren und zu täuschen, wobei Starmers Auftreten staatsmännisch und nicht parteitaktisch gewirkt habe.
  • Starmer werde in seiner ideologisch gespaltenen Partei so geachtet, dass es ihm geräuschlos gelungen sei, die “unfähigsten und am meisten links-ideologisch verhärteten Corbyn-Anhänger aus führenden Partei-Positionen zu entfernen.“ *8)
  • Nach den bitteren Oppositions-Jahren für Labour habe Starmers kurze Zeit als Oppositionsführer bereits “Zuversicht bei Großbritanniens politisch Moderaten und Progressiven“ *8) geweckt: Nunmehr werde die von den Konservativen geführte Regierung öffentlich wirkungsvoll von der Labour-Opposition zur Verantwortung gezogen.

Deshalb sollte es nach dem Wechsel von Jeremy Corbyn zu Keir Starmer nicht wenigen Sozialdemokraten leichter fallen als in den letzten Jahren, der SPD bei der Auswahl ihrer Führungspersonen den Blick auf die Labour-Party zu empfehlen. Der von Keir Starmer geprägte Maßstab für die Qualität politischer Führung mag auch deutsche Sozialdemokraten ermutigen.

Solche Sozialdemokraten — politisch Moderate und Progressive — werden erwarten, dass die SPD-Führung die jahrelange linksgewirkte Begeisterung für die Labour-Party unter Jeremy Corbyn beendet. Sie erwarten von der SPD, dass sie mit einem regierungserfahrenen, herausragenden Kanzler-Kandidaten und Führungs-Team den Wahlkampf 2021 vorbereitet.

Gelingt dies nicht, dann werden viele Sozialdemokraten das bereits in Medien *1) der SPD-Kandidatensuche vorhergesagte “Verlieren mit gutem Gefühl“ nicht hinnehmen.

*1) KANDIDATENSUCHE DER SPD. Verlieren mit gutem Gefühl. VON CHRISTOPH SCHWENNICKE am 1. Juni 2020; https://www.cicero.de/innenpolitik/kandidatensuche-der-spd-verlieren-mit-gutem-gefuhl.

*2) Großbritannien. 56,2 Prozent im Mitgliederentscheid: Keir Starmer ist neuer Labour-Chef. Kai Doering. 04. April 2020; https://www.vorwaerts.de/artikel/562-prozent-mitgliederentscheid-keir-starmer-neuer-labour-chef. (RS Hinweis: Dieser Beitrag verweist zum Schluß als “weiterführenden Artikel“ auf: Großbritannien. Mitgliederbefragung: Was die SPD von Labour lernen kann. Christos Katsioulis. 11. Juni 2019. Mit Bild von Jeremy Corbyn.)

*3) Großbritannien. Mitgliederbefragung: Was die SPD von Labour lernen kann. Christos Katsioulis. 11. Juni 2019; https://www.vorwaerts.de/artikel/mitgliederbefragung-spd-labour-lernen.

*4) Großbritannien. Warum Jeremy Corbyn trotz seiner Fehler der richtige Vorsitzende für Labour ist. Nicholas Williams. 27. September 2016; https://www.vorwaerts.de/artikel/jeremy-corbyn-trotz-seiner-fehler-richtige-vorsitzende-labour.

*5) SPD-Bundesparteitag. „#CorbynEinladen!“: Jusos wollen Labour-Chef als Impulsredner. Robert Kiesel. 10. November 2017; https://www.vorwaerts.de/artikel/corbyneinladen-jusos-wollen-labour-chef-impulsredner.

*6) Die Behauptung in *3), der Labour-Premier Gordon Brown habe ab 2008 eine Austeritätspolitik betrieben, scheint allerdings falsch zu sein. Gordon Browns Position sei hier zitiert: „In 2008-09, we tried to persuade people that it made sense to run a deficit and it was not a problem in the long term if debt rose in the short term. We failed to persuade people. If anything contributed to the return of the Conservatives to power, it was their ability to scare people about the deficit and debt. All our Keynesianism – which it was – which deliberately ran a deficit to keep people out of unemployment, to stop mortgage repossessions, to stop business bankruptcies, was never properly understood.“ (Quelle: UK. 22 APRIL 2020. Gordon Brown: “The solution to this crisis is still global”. By Stephen Bush; https://www.newstatesman.com/politics/uk/2020/04/gordon-brown-solution-crisis-still-global).

*7) Kenneth O. Morgan. Labour People. Leaders and Leutnants: Hardie to Kinnock. Oxford University Press 1987, insbesondere S. 29 ff.

*8) MARTIN FLETCHER. How Keir Starmer has transformed Labour into a credible opposition. For the first time in five bleak years, the Conservative government is being properly held to account. 18 MAY 2020; https://www.newstatesman.com/politics/uk/2020/05/how-keir-starmer-has-transformed-labour-credible-opposition.