Vernichtungskrieg: Kein Anlass für Diplomatie.

 

Bundespräsident Steinmeier mag geglaubt haben, wenn er Fehler in seiner Ukrainepolitik als Außenminister 2013 bis 2017 einräume, käme am 13. April 2022 in Kiew die große Geste der Versöhnung mit Präsident Selenskyi.

Dies war ein Irrtum. Im folgenden wird versucht, die Vorgänge zu erläutern, die zu diesem für Deutschland peinlichen Resultat führten.

1. Steinmeiers Außenpolitik 2013 – 2017 gegenüber Russland und der Ukraine.

Warum sollte die Staatsführung der Ukraine vergessen, wie Steinmeier in seiner zweiten Amtszeit 2013 – 2017 aus ukrainischer Sicht vor allem die Beziehungen zu Russland gegenüber der Ukraine vorzog? Gerade auch nach der russischen Aggression gegen die Ukraine ab 2014, dem Raub der Krim, den blutigen Militäreinsätzen in der Ostukraine.

1.1. Außenminister Steinmeier: Präferenz für Russland?

Hierzu sei an Steinmeiers Besuch mit Außenminister Lawrow in der Ural Federal University Jekaterinburg und seine Rede vom 15. August 2016 erinnert: *1)

  • Als ich zum letzten Mal hier war – das war im Dezember 2014 – so war dies mein erster Besuch nach der Annexion der Krim durch Russland, und mitten in der eskalierenden Ukraine-Krise – ein Tiefpunkt in unserem Verhältnis, dessen Auswirkungen bis heute noch nicht überwunden sind. Aber all das ist kein Grund, einander den Rücken zuzukehren. Im Gegenteil: Es ist umso mehr Grund, alle Anstrengungen darauf zu richten, sich nicht zu verlieren oder gar zu entfremden.
  • Nun, und wo wir von staatlicher Souveränität sprechen, geht es auch um die Frage: Wenn Staaten souverän sind, wie werden umgekehrt die Rechte von Minderheiten innerhalb der Staaten geschützt? Manche in Russland haben gesagt: Wenn in der Ukraine nach den Umwälzungen 2014 die russischsprachige Bevölkerung gefährdet war, mussten wir sie dann nicht schützen? 
  • Wenn Staaten von anderen Staaten die Achtung ihrer Souveränität verlangen, dann müssen sie dafür Sorge tragen, dass die Rechte der Menschen innerhalb ihrer Grenzen geschützt sind. Genau das haben wir auch unseren Partnern in der Ukraine gesagt, als es zum Beispiel um die russischen Sprachenrechte ging. Ich finde: Jedem Staat als Mitglied der Völkergemeinschaft müssen wir abverlangen, die Rechte aller seiner Bürger zu schützen.
  • Wenn endlich eine Zeit des Wiederaufbaus in Syrien kommt, dann sollten besonders Deutschland und Russland Hand in Hand arbeiten … ich würde mich sehr freuen, wenn Russland das Angebot der Zusammenarbeit annehmen würde! … Wir müssen zueinanderfinden und wir müssen zusammenarbeiten! Das gilt in den großen Fragen, Krieg und Frieden, Ukraine und Syrien …

Erscheint der Eindruck aus dieser Rede hergeholt, dass Steinmeier noch 2016 — nach Landraub der Krim und Krieg im ukrainischen Donbas — die Ukraine wie Syrien als “Arbeitsgebiet“ im Rahmen prioritärer Russlandkooperation ansah?

1.2. Außenminister Steinmeier: Mitgestalter der “Minsker Vereinbarungen“.

Steinmeier wird wegen seiner bedeutenden Rolle als Mitgestalter  der “Minsker Vereinbarungen“ wissen, dass Russland als unterzeichnender Staat diese schon lange vor dem Angriffskrieg seit dem 24. Februar 2022 gebrochen hatte, wie die EU sogar noch am 22. Februar 2022 feststellen musste: *2)

  • Präsident Putin hatte kurz zuvor die Oblaste Donezk und Luhansk, also ukrainisches Staatsgebiet, als unabhängige staatliche Einheiten anerkannt und russisches Militär dorthin entsandt.
  • Die EU verurteilte Putins Entscheidung als „illegales Vorgehen“, das die  Souveränität und Unabhängigkeit der Ukraine verletze und ein schwerwiegender Verstoß gegen das Völkerrecht und internationale Abkommen, wie die VN-Charta, die Schlussakte von Helsinki, die Pariser Charta und das Budapester Memorandum sei.
  • Außerdem verstoße Russland mit der Anerkennung der Oblaste Donezk und Luhansk als unabhängige Staaten gegen die Minsker Vereinbarungen, die von Russland unterzeichnet wurden. Denn nach den Minsker Vereinbarungen müssten diese Gebiete unter die Kontrolle der ukrainischen Regierung zurückkehren. Russland verletze ebenfalls seine selbst bestätigte Verpflichtung im Rahmen des Normandie-Formats und der Trilateralen Kontaktgruppe an einer friedlichen Lösung des Konflikts zu arbeiten. Schließlich stelle sich Russland gegen die selbst mitbeschlossene Resolution 2202 des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen (VN), die vollständige Umsetzung der Minsker Vereinbarungen fordert.

Russlands Antwort auf den EU-Vorhalt dieser Verletzung von Völkerrecht, von getroffenen Vereinbarungen und Kooperationsverpflichtungen — Angriffskrieg am 24. Februar 2022, dem bereits ein Jahr lang die Drohung des militärischen Aufmarsches an den Grenzen der Ukraine vorausging.

Die EU bekräftigte „ihre unerschütterliche Unterstützung und ihr Engagement für die Unabhängigkeit, Souveränität und territoriale Integrität der Ukraine innerhalb ihrer international anerkannten Grenzen (… und) ihr Engagement für den Ausbau ihrer politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zur Ukraine.“ *2)

Im Nachhinein hat sich leider die Skepsis gegenüber der 2016 vom damaligen Bundesaußenminister und OSZE-Vorsitzenden Steinmeier vorgeschlagenen ´Steinmeier-Formel` für den “Friedensprozess von Minsk“ bestätigt. Russland und seine auch militärisch gesteuerten und unterstützten “Separatisten“ in der Ostukraine beharrten auf dem abspalterischen “Sonderstatus“ der Gebiete und verwehrten der Ukraine die Kontrolle über ihre Landesgrenze. Das friedenschaffende Potential der ´Steinmeier-Formel` war daher „in der wissenschaftlichen Diskussion eher skeptisch beurteilt worden“. *3)

Für die politische Führung der Ukraine bestätigte sich die schon 2014 – 2015 vorherrschende Sicht, dass „das Minsker Abkommen ein ´Diktat Moskaus` darstellt, welches der ukrainischen Führung in einer Situation militärischer Unterlegenheit ´aufoktroyiert` wurde … nachdem Russland .. mit regulären Truppen im Donbass auf Seiten der Separatisten eingegriffen, den ukrainischen Streitkräften schwere Verluste zugefügt hatte und die Gefahr stark gestiegen war, dass die Ukraine die militärische Kontrolle noch über weitere Gebiete in der Ostukraine, unter Umständen bis hin zur annektierten Krim, verlieren würde“. *3)

Gewiss sind die friedensstiftenden Absichten und Ziele Außenminister Steinmeiers in der Ukrainepolitik anzuerkennen. Dennoch lässt sich leicht nachvollziehen, wie “ungleichgewichtig“ in den politischen Führungskreisen der Ukraine die Rolle des früheren Außenministers Steinmeier gegenüber ihrem Land und gegenüber Russland wahrgenommen werden mag.

2. Bundespräsident Steinmeier: aktuelle Beziehungen zur Ukraine.

2.1. Das “Solidaritätskonzert“ im Amtssitz des Bundespräsidenten.

Am Sonntag, 27. März 2022, hatte Steinmeier zu einem “Solidaritätskonzert“ für die Ukraine mit den Berliner Philharmonikern in das Schloss Bellevue eingeladen. Der Botschafter der Ukraine, Andrij Melnyk, hatte seine Teilnahme abgesagt.

Hier bleibe dahingestellt, wie viele ukrainische, belarussische oder russische Musiker an dem “Solidaritätskonzert“ mitwirkten. Die Sprecherin des Bundespräsidenten, die Journalistin Cerstin Gammelin, hatte auf bedeutende ukrainische Musiker hingewiesen und nach Melnyks Absage öffentlich bedauert, dass dieses Zeichen der Solidarität für die Ukraine nicht gemeinsam gesendet werden könne.

Als wichtigere Frage erscheint jedoch, wie hat das Bundespräsidialamt die Frage des Solidaritätskonzertes und die Einladung an Botschafter Melnyk gehandhabt? In der Lage des blutigen Vernichtungskrieges gegen die Ukraine, den Russland führt, sollte doch einsichtig sein, dass Botschafter Melnyk sich vor allem um finanzielle Unterstützung und um Lieferung von Waffen für sein Land kümmert.

Ist mit der gebotenen Umsicht bei Botschafter Melnyk angefragt worden, ob das angestrebte Zeichen der Solidarität für die Ukraine und seine Teilnahme daran überhaupt möglich und genehm wäre?

Die Ukraine ist schließlich bei ihren verzweifelten Ersuchen um Waffenhilfe nicht als Bittsteller zu sehen, sondern als Land, das durch partnerschaftliche Verträge mit der EU und der NATO verbunden ist. Und dass der verbrecherische Krieg Russlands auch gegen die Werte und Interessen der EU und der NATO geführt wird!

Ging es dem Bundespräsidialamt überhaupt um Einvernehmen mit dem Botschafter der Ukraine? Oder ging es darum, den Wunsch des Bundespräsidenten durchzusetzen. Dann würde der Eklat einer Absage Melnyks diesem schon von den erfahrenen Sprechern des Bundespräsidialamtes in der Öffentlichkeit angelastet werden. So kam es auch: Der Vorwurf “ukrainischer Botschafter boykottiert Solidaritätskonzert“ ging durch die empörten Medien.

2.2. Die “Staatsaffaire“ um die “Ausladung“ Steinmeiers durch Selenskyi.

Bundespräsident Steinmeier war am 12. April 2022 in Warschau, wo er die Staatspräsidenten Polens und der drei baltischen Länder traf.

Diese Länder haben aus ihrer Erfahrung heraus, im Unterschied zu Deutschland, seit je vor Russland gewarnt und besonders die stark wachsende Abhängigkeit Deutschlands vom Import der Energieträger Erdgas, Öl und Kohle aus Russland kritisiert.

Die vier östlichen EU- und NATO-Mitglieder waren am Folgetag, Mittwoch dem 13. April, mit Ukraines Staatspräsident Selenskyi in Kiew verabredet. Polens Präsident Andrzej Duda hatte wohl vorgeschlagen, dass sich Steinmeier der Reise nach Kiew anschließt und die Gespräche mit dem Präsidialamt in Kiew übernommen.

Das Präsidialamt in Kiew habe am Nachmittag des 12. April der deutschen Botschafterin und wohl auch Präsident Duda ausrichten lassen, dass man einen Besuch des Bundespräsidenten „für substanzieller und akzeptabler halte, wenn er unabhängig von der Visite der Staatschefs Polens und der Baltenrepubliken an diesem Mittwoch gehalten werde“, außerdem seien “Sicherheitsbedenken und logistische Überlastung“ angeführt worden. *4) Diese Bedenken des Präsidialamtes in Kiew gegen die Erweiterung des geplanten Reiseprogramms um Bundespräsident Steinmeier erscheinen nicht als Affront, sondern angesichts der Kriegslage nachvollziehbar.

Steinmeier äußerte sich dennoch öffentlich darüber enttäuscht, so dass hierzulande fast durchweg große Entrüstung aufkam.

Mützenich (SPD-Fraktionsvorsitzender im Bundestag) forderte von ukrainischen Repräsentanten, sich an ein „Mindestmaß diplomatischer Gepflogenheiten“ zu halten. Habeck: „Ausladung Steinmeiers ist eine Ausladung Deutschlands“. Die Proteste reichten bis hin zu der im östlichen Europa bekannten deutschen Tonart, was Selenskyi denn glaube, wer er sei.

Warum maßen wir Deutschen uns an, unser Bundespräsident Steinmeier müsse von der Ukraine im Falle seines spontanen Wunsches, von Warschau aus dorthin zu reisen, umgehend mit allen gebotenen Ehren empfangen werden?

Zumal Steinmeier selbst sich gezwungen sah, seine Fehler in der Ukrainepolitik schließlich einzuräumen und sich von Russland getäuscht zu sehen. Allerdings dürfte seit mindestens einem Jahrzehnt nur sehr wenigen Fachleuten entgangen sein, dass keine friedlichen Absichten hinter der russischen Ukrainepolitik standen.

Erneut nimmt das Bundespräsidialamt in dieser unnötig hochgespielten “Staatsaffaire“ eine merkwürdige Rolle ein. Wie können Presseerklärungen von Habeck und anderen zugelassen werden, dass der Bundespräsident “ausgeladen“ worden sei. Davon könnte doch nur die Rede sein, wenn er vorher eine persönliche Einladung erhalten hätte, was bekanntlich nicht der Fall war.

Wieso bringt das Bundespräsidialamt Steinmeier in die Situation, dass er sich einer eingeladenen Delegation der Staatspräsidenten Polens und der baltischen Länder “anschließt“? Selbst halbwegs informierte EU-Bürger wissen, dass die Beziehungen Polens und der baltischen Staaten zur Ukraine durch eine ungleich größere Nähe und Freundschaft gekennzeichnet sind als die Deutschlands.

Bundespräsident Steinmeier hatte in seinen Amtsjahren als Außenminister in ganz entscheidender Weise die politische Nähe zu und die energiepolitische Abhängigkeit von Russland bestimmt. Gerade deshalb wäre es geboten gewesen, dass das Bundespräsidialamt im ukrainischen Präsidialamt angefragt hätte, ob der Besuch Steinmeiers im Rahmen des Reise-Programms der Präsidenten Polens und der baltischen Staaten in Kiew machbar sei. Dann wären Bundespräsident Steinmeier die “Enttäuschung“, die “Demütigung“, die “Ausladung“ und ähnlich unsinnige Bewertungen in Deutschland erspart geblieben.

3. Fazit.

Die Wochenzeitung “Die Zeit“ konstatierte für Bundespräsident Steinmeier einen “Wirkungstreffer“. *5) Schwere Waffen zur Verteidigung gegen die unmittelbar bevorstehenden, absehbar blutigen Militärschläge in der Ostukraine kommen nicht aus Deutschland; Scholz und Mützenich bremsen dies aus — in undurchsichtigem Verbund mit Frankreich.

Statt dessen wollte Deutschland “ausgerechnet Steinmeier (schicken), damit der seine symbolische Läuterung in der Kulisse der Kiewer Kriegslandschaft und mit dem ukrainischen Präsidenten als Nebendarsteller inszenieren kann.“ *5)

Ein bitterer Kommentar für unser Staatsoberhaupt.

*1) Rede von Außenminister Frank-Walter Steinmeier an der Ural Federal University Jekaterinburg. 15.08.2016. https://www.auswaertiges-amt.de/de/newsroom/160815-bm-jekaterinburg/282744 (Sehr geehrter Herr Außenminister, lieber Sergej (rs: Lawrow). Sehr geehrter Herr Rektor Kokscharow, liebe Studierende!). RS: wörtlich zitiert, eigene Hervorhebungen.

*2) Erklärung des Hohen Vertreters im Namen der Europäischen Union zu den Entscheidungen der Russischen Föderation, die die Souveränität und territoriale Integrität der Ukraine weiter untergraben. 22.02.2022 – Pressemitteilung; https://www.auswaertiges-amt.de/de/newsroom/eu-27-russland-ukraine/2512866. RS — vereinfachte Hinweise zu den Begriffen: Die VN-Charta, die Schlussakte von Helsinki, die Pariser Charta stimmen darin überein, dass die Unabhängigkeit, Souveränität und territoriale Integrität der Staaten innerhalb ihrer international anerkannten Grenzen weder durch Drohung noch durch militärische Gewalt geändert werden dürfen. Das Budapester Memorandum von 1994 hat der Ukraine diese Sicherheit zugesagt, als sie das Nuklearwaffen-Arsenal auf ihrem Boden an Russland übergab. Die USA, Großbritannien und Russland verpflichteten sich dazu als “Garantiemächte“. Die Minsker Vereinbarungen strebten an, den seit 2014 in der Ostukraine geführten Krieg durch politische Maßnahmen zu beenden. Die Staats- bzw. Regierungschefs Frankreichs, Deutschlands, Russlands und der Ukraine hatten dazu ein Maßnahmenbündel ausgehandelt. Kurz nach Unterzeichnung der Minsker Vereinbarungen wurden diese durch militärische Angriffe seitens der “Separatisten“ mit Unterstützung durch russische Truppen gebrochen (s. Wikipedia, Minsk II). Den Rahmen für die Lösung des Konflikts zwischen Russland und der Ukraine nach dem ersten Schritt der Minsker Vereinbarungen bilden die OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) und ihre im Juni 2014 eingesetzte Trilaterale Kontaktgruppe (OSZE, Ukraine, Russland). Politisch begleitet wird dieser Prozess von den Staaten des sogenannten „Normandie-Formats“ (Deutschland, Frankreich, Ukraine und Russland). Quelle: https://www.auswaertigesamt.de/de/aussenpolitik/laender/ukraine-node/-/201850

*3) Die Minsker Vereinbarungen zum Ostukraine-Konflikt © 2022 Deutscher Bundestag. Wissenschaftliche Dienste. WD 2 – 3000 – 081/21. Abschluss der Arbeit: 21. 5. Januar 2022;  https://www.bundestag.de/resource/blob/880828/23b6372347d72f843cb197002f229887/WD-2-081-21-pdf-data.pdf

*4) Steven Geyer. Empörung nach Ausladung. Steinmeier-Besuch: Kiew sagte aktiv bei Deutscher Botschaft ab. 14.04.2022; https://www.rnd.de/politik/steinmeier-besuch-kiew-sagte-aktiv-bei-deutscher-botschaft-ab BELMFEO3LZH6RNMKN27XMQTDRI.html

*5) Frank-Walter Steinmeier. Hoffentlich ein Wirkungstreffer. Ein Kommentar von Lenz Jacobsen, Politikredakteur bei ZEIT ONLINE mit Schwerpunkt Demokratie. 13. April 2022; https://www.zeit.de/politik/deutschland/2022-04/frank-walter-steinmeier-kiew-besuch-wolodymyr-selenskyj