Verrat an Willy Brandt?

SPD-Politiker sollen diesen Verrat an Willy Brandts „Ostpolitik“ im politischen Kurs von Außenminister Heiko Maas „wittern“. Kern der Kritik: Die Regierung Russlands werde nicht „auf Augenhöhe“, die Regierung der USA nicht mit gebotener „Abgrenzung“ behandelt. Zyniker könnten sagen: So kennen wir die SPD — „mehr Moskau, weniger Washington“, werde gefordert. *1)

Denn: „Das Verhältnis Deutschlands zu Russland wird in der traditionell amerikaskeptischen SPD stets mit dem Verhältnis zu den Vereinigten Staaten verglichen.“ Angesichts des erratisch agierenden US-Präsidenten Trump sei Kritik des Ministers Maas an der Außenpolitik des „berechenbaren“ Präsidenten Putin „unklug“. *1)

Für weitere Aufregung in der SPD sorgte der Staatsminister für Europa im Auswärtigen Amt, Michael Roth (SPD). Er hatte kürzlich gewarnt, „ein deutscher Sonderweg gegenüber Russland wäre brandgefährlich“, weil dadurch die sicherheitspolitischen Sorgen östlicher Mitglieder der NATO und der EU — wie z. B. Polen und die baltischen Staaten — gegenüber Russland übergangen würden. Dies gefährde die „Geschlossenheit und Entschlossenheit der EU … außen- und sicherheitspolitisch zu gestalten … auf Grundlage einer gemeinsamen Strategie.“ *2)

„Was bitte soll das?“ *1) Derart seien die warnenden Worte des Staatsministers Roth vor einem deutsch-russischen Sonderweg zu Lasten der ostmitteleuropäischen Länder in SPD-Kreisen herabgesetzt worden.

Der neue Kurs der Auswärtigen Politik gegenüber Russland benennt dessen Brüche des Völkerrechts und die berechtigten sicherheitspolitischen Sorgen unserer östlichen Nachbarn vor russischer Aggression deutlich. Dies unterscheidet die Politik von Außenminister Maas von seinen SPD-Vorgängern, Steinmeier und Gabriel. Einige hochrangige Sozialdemokraten gehen so weit, Maas deshalb einen Bruch mit der von Willy Brandt begründeten „Tradition sozialdemokratischer Ostpolitik“ vorzuwerfen.*1)

Dieser kurz skizzierte SPD-Konflikt mit seiner pauschalen Berufung auf das „ostpolitische Erbe Willy Brandts“ regt zu einem eigenen Versuch an: Lassen sich außenpolitische Gedanken des großen sozialdemokratischen Bundeskanzlers und Trägers des Friedensnobelpreises *3) mit der heutigen „Ostpolitik“ von Außenminister Heiko Maas verknüpfen? Vorab sei schon zur Vorsicht geraten: Jeder Sozialdemokrat wird „seinen“ Willy Brandt lesen wie er will.

Dieser Versuch wird in die folgenden Themen gegliedert:

• Notwendigkeit des Dialogs mit der russischen Regierung.

• Rang der deutsch-russischen Beziehungen.

1. Dialog mit der russischen Regierung.

In gefahrvollen außenpolitischen Lagen hat Willy Brandt „an die simple Wahrheit erinnert, dass geredet werden müsse, wenn sich die Instrumente der Zerstörung nicht selbständig machen sollten.“ (*3), S. 363).

Soll der politische Dialog mit Präsident Putins Regierung die mehr als bedrohliche Tatsache verleugnen, dass dessen Machtpolitik gegenüber Nachbarländern und in Syrien eher „die Instrumente der Zerstörung“ (Willy Brandt) entfesselt und Verständigung verweigert hat?

Erst Putins hybride Kriege: Krim-Annexion, militärische Intervention in der Ostukraine, in Georgien, in Syrien, Cyber-Krieg, Wahlen in westlichen Demokratien zugunsten von Rechtspopulisten beeinflusst. Leugnen des MH17-Abschusses über der Ost-Ukraine, der Mord- und Giftgas-Anschläge in Großbritannien und in Syrien.

Danach sei Dialog zu Putins Bedingungen möglich: Natürlich müsste die durch militärische Intervention erreichte Beute (Krim, Ostukraine) anerkannt werden. Die Völkerrechtsbrüche und Kriegsverbrechen unter russischer Militärdominanz wären „diplomatisch“ zu verschweigen … Und schließlich sei deutsches Geld bereit zu stellen. Um das von Russland, Iran und Assad zerbombte Syrien wieder aufzubauen. Dann könnten angeblich die nach Deutschland geflüchteten Syrer wieder in ihr Land zurückkehren. So jedenfalls ließ sich Präsident Putin vernehmen. Erpressung? *4)

Welche Ziele haben SPD-Kritiker des Außenministers Maas, die mit dessen „Tonalität nicht glücklich sind“, *5) wenn sie „´Signale der Verständigung` mit Russland“ fordern? Deren angebliches Ausbleiben unter Außenminister Maas „in der Partei ´weitverbreitete Irritationen`“ hervorrufe, so Niedersachsens SPD-Ministerpräsident Stephan Weil. *1) Zu vermuten ist: back to business as usual.

Wieder stehen wir in Deutschland vor einem Konflikt wie Ende 2014, als nach vollzogenen militärischen Angriffen Russlands gegen die Ukraine, Georgien und Moldau/Transniestrien 60 hohe Repräsentanten aus Politik und Gesellschaft einen „Appell zum Dialog mit Russland“ erhoben: für Frieden und Entspannung. *6)

Dialog ohne eigene, den Hybrid-Krieg Putins bewertende Position?

Dies nahmen 100 wissenschaftlich ausgewiesene Osteuropa-Experten nicht hin: In der Ukraine-Krise sei „eindeutig Putin der Aggressor“ und die Wissenschaftler plädierten „für eine realitätsbasierte statt illusionsgeleitete Russlandpolitik“.*7)

Diese Kontroverse ist hier nicht aufzugreifen. Aber als Ergebnis sei die Position vertreten: Dialog zur Kontrolle über „die Instrumente der Zerstörung“ (Willy Brandt) ist notwendig. Die deutsche Politik sollte jedoch klarstellen, wie sie das russische Gegenüber und sein Handeln einschätzt: „realitätsbasierte statt illusionsgeleitete Russlandpolitik“.

Und hier bietet Außenminister Heiko Maas — im Gegensatz zu seinen Vorgängern Steinmeier und Gabriel — ein orientierendes Analyseergebnis: „Russland agiert leider zunehmend feindselig“. *8) Gegen die überfallenen Nachbarn Russlands und gerade auch gegen die NATO- und EU-Mitglieder Polen und die baltischen Staaten.

Dialog ja, aber im Rahmen einer „realitätsbasierten statt illusionsgeleiteten Russlandpolitik“: „Wir werden für die großen Krisen unserer Zeit, von Syrien bis zur Ost-Ukraine, keine Lösung ohne die Einbindung von Russland finden. Deswegen müssen wir gerade in komplizierten Zeiten das direkte Gespräch suchen — über internationale Fragen aber auch über das deutsch-russische Verhältnis in seinen verschiedenen Schattierungen.“ (Außenminister Heiko Maas) *9)

Es liegt allein an der Regierung Russlands, ob sie als Partner oder strategischer Gegner des demokratischen Westens beurteilt wird.

Wie gesagt, jeder Sozialdemokrat mag Willy Brandt anders lesen: Einen „Verrat“ an seinem friedenspolitischen Erbe durch Außenminister Heiko Maas zu „wittern“, *1) erscheint mir abwegig.

2. Rang der deutsch-russischen Beziehungen.

Gewiss ist den deutsch-russischen Beziehungen hohe Bedeutung beizumessen. Aber kein Vorrang! Weder gegenüber den NATO-Verbündeten, noch gegenüber den in der gemeinsamen Europäischen Union (EU) verbundenen östlichen Mitgliedsländern.

Auch gegen diese Position lässt sich kein „ostpolitisches Erbe Willy Brandts“ auffahren.

Willy Brandt hatte klargestellt: Das „Nordatlantische Bündnis (werde) auch in Zukunft unsere Sicherheit gewährleisten. Sein fester Zusammenhalt sei die Voraussetzung für das solidarische Bemühen, zu einer Entspannung in Europa zu kommen.“ (*3), S. 188).

Hat Willy Brandt eine Sonderrolle für die deutsch-russischen Beziehungen zu Lasten der ostmitteleuropäischen Länder angestrebt? Keineswegs, Brandt hat nicht über diese Länder hinweg Annäherung mit Russland gesucht.

Vielmehr forderte er schon 1969, „dass die (Europäische) Gemeinschaft vertieft und erweitert werden … (und) die geeigneten Formen der Zusammenarbeit auch mit jenen europäischen Staaten finden müsse, die der Gemeinschaft nicht beitreten könnten oder wollten.“ (*3), S. 188). Dass Willy Brandt dabei auch an die Länder Ostmitteleuropas dachte, hat er 20 Jahre später betont.

Willy Brandt schreibt 1989: „Auf meine alten Tage freue ich mich über den messbaren Gewinn für Menschenrechte und staatsbürgerliche Freiheiten. Erst in der Mitte Europas. Dann im Süden … Und nun auch im östlichen Teil, den manche Status-Quo-Strategen voreilig der Sowjetunion zuschlagen wollten.“ (*3), S. 499).

3. Ergebnis.

Der Vorwurf aus SPD-Kreisen, Außenminister Heiko Maas habe mit der von Willy Brandt begründeten „Tradition sozialdemokratischer Ostpolitik“ gebrochen, erscheint in der hier dargelegten Lesart des Erbes von Willy Brandt nicht haltbar.

Solche Vorwürfe sind leider bis ins Absurde ausgeufert. *10) Die ehemalige Bundestags-Vizepräsidentin Antje Vollmer (Grüne) „sei entsetzt, ´dass der neue Außenminister Heiko Maas in wenigen Sätzen bei seinem Amtsantritt dieses ganze außenpolitische Tafelsilber der SPD scheinbar verleugnet, wenn er sagt, er ist nicht wegen der Entspannungspolitik, nicht wegen Egon Bahr und Willy Brandt, auch nicht wegen der Friedensbewegung in die Politik gegangen, sondern wegen Auschwitz`“.

Sind hochrangige Grüne schon so autoritär-verblendet, dass sie das höchst ehrenwerte Motiv herabsetzen müssen, das den jungen Heiko Maas zur SPD geführt hat?

Aber auch die in der Presse weithin als Mahnung an Außenminister Maas dargestellten Worte des Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier erscheinen seltsam. „Steinmeier ließ in einem Zeitungsinterview die Sorge um sein Erbe erkennen. ´Ganz unabhängig von Putin — wir dürfen nicht Russland insgesamt, das Land und seine Menschen, zum Feind erklären`, mahnte (er) Maas Mitte April.“ *1).

Steinmeiers Ausage entzieht sich schon deshalb dem Verständnis, weil es in Deutschland nicht den geringsten Beleg dafür gibt, dass „Russland insgesamt, das Land und seine Menschen, zum Feind“ erklärt wird. Schon gar nicht durch Außenminister Heiko Maas.

In diesem Beitrag ging es jedoch um die Kontroverse, ob Außenminister Maas mit dem „ostpolitischen“ Erbe Willy Brandts breche (Antwort: Nein!!). Und nicht um die Frage, ob Maas die Russlandpolitik seines Amtsvorgängers Steinmeier fortsetze.

Hier wird indes die neue Klarheit begrüßt, die Außenminister Maas gegenüber dem völkerrechtswidrigen Verhalten Russlands und seinen Blockaden zeigt, eine Reihe von Kriegsverbrechen in seinem militärischen Machtbereich aufzuklären.

Ebenso begrüßt wird die Ansage von Heiko Maas, er wolle „sich zwar um einen Dialog mit Moskau bemühen, zum Erbe der Ostpolitik Willy Brandts gehöre für ihn aber genauso, sich um die osteuropäischen Staaten zu bemühen. ´Um die müssen wir uns mehr kümmern, als das manchmal in der Vergangenheit der Fall war`.“ *8)

*1) DEUTSCHLAND. MAAS IN DER KRITIK. SPD-Politiker wittern Verrat an Willy Brandts Erbe. Stand: 28.05.2018. Von Daniel Friedrich Sturm; www.welt.de.

*2) MICHAEL ROTH. Ein deutscher Sonderweg gegenüber Russland wäre brandgefährlich. Veröffentlicht am 16.04.2018. Von Michael Roth; https://www.welt.de/debatte/kommentare/plus175473155/Michael-Roth.

*3) Willy Brandt. Erinnerungen. 3. erweiterte Auflage 1989.

*4) Putin verlangt von Europa Hilfe beim Wiederaufbau Syriens.18.05.2018; https://www.businessinsider.de/putin-verlangt-von-europa-hilfe-beim-wiederaufbau-syriens: „Europa muss nach den Worten des russischen Präsidenten Wladimir Putin beim Wiederaufbau Syriens helfen, wenn die Flüchtlinge dorthin zurückkehren sollen.“

*5) Martin Dulig, der Ostbeauftragte der SPD, in: SPD-Vorstandssitzung. Heiko Maas stellte sich der Kritik an seiner Russlandpolitik; https://www.tagesspiegel.de/politik/spd-vorstandssitzung-heiko-maas-stellte-sich-der-kritik. 28.05.2018.

*6) Ukraine-Krise. „Wieder Krieg in Europa? Nicht in unserem Namen!“ ZEIT ONLINE dokumentiert den Aufruf. 5. Dezember 2014.

(Mehr als 60 Persönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft, Kultur und Medien warnen in einem Aufruf eindringlich vor einem Krieg mit Russland und fordern eine neue Entspannungspolitik für Europa. Ihren Appell richten sie an die Bundesregierung, die Bundestagsabgeordneten und die Medien.)

*7) MEINUNG GEGEN-AUFRUF. In der Ukraine-Krise ist eindeutig Putin der Aggressor. Veröffentlicht am 12.12.2014; https://www.welt.de/debatte/kommentare/article135289463/In-der-Ukraine-Krise-ist-eindeutig-Putin-der-Aggressor.html. (Eine Antwort auf den Russland-Aufruf von 60 Prominenten: 100 deutschsprachige Osteuropa-Experten plädieren „für eine realitätsbasierte statt illusionsgeleitete Russlandpolitik“. Der Text im Wortlaut.)

*8) SPIEGEL ONLINE. 13. April 2018. Deutsch-russische Beziehungen. Maas für mehr Härte gegen Moskau. Von Christiane Hoffmann und Christoph Schult. „Russland agiert leider zunehmend feindselig“: Außenminister Heiko Maas verschärft im SPIEGEL die Tonlage gegenüber Moskau — und geht damit auf Distanz zu seinen Vorgängern.

*9) Außenminister Maas vor Abflug nach Moskau. 10.05.2018. Pressemitteilung; https://www.auswaertiges-amt.de/de/newsroom/maas-russland/2076208.

*10) INTERVIEW vom 30.03.2018. Skripal-Affäre. Grünen-Politikerin Vollmer „entsetzt“ über deutsche Russland-Politik. Antje Vollmer im Gespräch mit Elke Durak; http://www.deutschlandfunkkultur.de/skripal-affaere-gruenen-politikerin-vollmer-entsetzt-ueber.1008.de.html?