Vertrauen und Politik.

 

Die Koalition von SPD, Grünen und FDP war noch kein halbes Jahr im Amt, da hatte Bundespräsident Steinmeier schon mehrfach für Vertrauen in die Politik und in die Demokratie geworben. *1)

1. Vertrauen in die Politik?

“Vertrauen ist .. eine Ressource, ohne die Politik nicht auskommt.“ Und: “Demokratie lebt von Vertrauen.“ Solche Sätze unseres Staatsoberhauptes scheinen sich an die Wählerschaft zu richten und wirken wie unantastbare Grundsätze unserer Demokratie.

Deshalb kann der Wähler fragen,

  • ob die Aussagen Steinmeiers als Appell an die Bürger zu verstehen sind, der Politik zu vertrauen, damit diese ihre Aufgaben erfüllen kann,
  • oder ob die Politik dem Volk Rechenschaft schuldet und sich dessen Vertrauen erarbeiten muss. So gesehen hätte die Politik keinen Anspruch auf das Vertrauen des Volkes.

Die “Politik“ (bzw. die “Demokratie“) umfasst zwei wesentliche Bereiche, denen vertraut werden sollte, wenn unser Staatsoberhaupt so verstanden werden darf:

  • die Politiker und die politischen Parteien,
  • den politischen Wettbewerb zwischen diesen demokratischen Akteuren.

1.1. Vertrauen in Politiker und Parteien?

Können die Wahlberechtigten den Politikern und den Parteien dahingehend vertrauen, dass ihnen ermöglicht wird, zwischen transparenten Politikangeboten zu wählen?

Parteien sind heterogen strukturiert und vor allem bei den größeren Parteien deutlich in Flügel gespalten, die gegensätzliche Positionen vertreten. Deshalb sind Verlautbarungen der Parteien und die Reden ihrer Politiker häufig durch gewundene “Spagat“-Formulierungen gekennzeichnet. Damit sollen streitende Parteiflügel eingebunden werden. „Gern genommen werden sinnfreie Floskeln, in denen besonders häufig Begriffe wie Zukunft, Vertrauen, Mut oder Verantwortung miteinander kombiniert werden … ´C wie Zukunft`“ war ein vom Urheber als witzig gemeintes Beispiel der Analyse Weisers.*2)

Der Befund Weisers schien sich bei der Bundestagswahl 2021 zu bestätigen. So formulierte die SPD: „Wir sehen viel Gutes. Wir sehen auch vieles, das man besser machen kann. Wir sehen aber auch Entwicklungen, die geändert oder gestoppt werden müssen, um eine gute Zukunft möglich zu machen. Deshalb werden wir in der Welt von morgen unseren Wohlstand sichern, erhalten und ausbauen und zugleich das Klima und die Umwelt schützen. Wir werden ermöglichen, dass alle Bürger*innen sicher leben und sich entfalten können.“ (https://www.spd.de/programm/zukunftsprogramm/uebersicht/i-zukunft-respekt-europa/).

Jeder Bürger mag selbst bewerten, ob dies Wortgeklingel ist, oder ob es einen Vorschuss an Vertrauen der Wähler gegenüber der “Politik“ verdient. 

1.2. Vertrauen in den demokratischen Wettbewerb der Parteien?

Können die Wähler auf den politischen Wettbewerb der Parteien  setzen, um die “Ressource Vertrauen“ (Steinmeier) in die Politik zu investieren?

Der Wettbewerb bei der Bundestagswahl 2021 war zwar hart, er hatte jedoch eine äußerst bedenkliche Folge.

Der Kanzlerkandidat der SPD, Olaf Scholz, versprach im Wahlkampf, er werde als Kanzler mit einem Mindestlohn von € 12 „10 Millionen Bürgerinnen und Bürgern eine Gehaltserhöhung“ verschaffen. *3)

Damit habe Scholz das in Art. 9 Grundgesetz verankerte Recht von Gewerkschaften und Arbeitgebern verletzt, frei von Staatseingriffen Arbeitsentgelte (Löhne) zu vereinbaren (Grundsatz der Tarifautonomie). Scholz überging die zuständige Mindestlohn-Kommission der Tarif- und Sozialpartner, in die zur Empfehlung eines gesetzlichen Mindestlohns Vertreter der Gewerkschaften und Arbeitgeber entsandt werden, die auch Wissenschaftler in beratender Funktion hinzuziehen.

Vor allem die Arbeitgeberseite warf Scholz Wortbruch und Verletzung der Tarifautonomie vor, Klage vor dem Bundesverfassungsgericht sei angedroht worden. *4) Die Mindestlohn-Kommission war 2015 von der Bundesregierung (CDU/CSU und SPD) eingerichtet worden, um Parteipropaganda von der Lohnbildung auf Arbeitsmärkten fern zu halten.

2015 hatte die Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) betont: “´Als wir das Mindestlohngesetz gemacht haben, da haben wir uns sehr schnell in der Großen Koalition darauf verständigen können, dass wir keinen politisch festgelegten Mindestlohn wollen.` Stattdessen sollten ´die Sozialpartner den Mindestlohn festlegen in einer unabhängigen, einer eigenständigen Kommission`. Ihnen alleine obliege es ´künftig zu prüfen, welche Höhe des Mindestlohns geeignet ist`. Denn sonst würde ´Willkür und Populismus Tür und Tor` geöffnet.“ *5)

Die Folge von “Willkür und Populismus“ (Andrea Nahles) des Kanzlerkandidaten Scholz, der „10 Millionen Bürgerinnen und Bürgern eine Gehaltserhöhung“ versprochen hatte, werden jetzt überdeutlich.

In Zeiten der Inflation verteidigen die ohnehin knappen Fachkräfte ihre Qualifikationsprämie bei der Entlohnung gegenüber Ungelernten: „Für die Hamburger Hafenarbeiter .. liegt ein Angebot von plus 12,5 Prozent auf dem Tisch — der Gewerkschaft Verdi ist das noch zu wenig. Bei der Lufthansa gab es soeben einen Abschluss für das Bodenpersonal mit Lohnsteigerungen von bis zu 19 (!) Prozent. Damit droht aber die Gefahr einer .. Lohn-Preis-Spirale“. *6)

Ob der Inflationsprozess außer Kontrolle gerät und in einen wirtschaftlichen Abschwung führt, ist derzeit die Sorge nicht nur von Wirtschaftsforschern, sondern vor allem von vielen Menschen hierzulande.

Bürger, die als Vorsorgesparer bereits seit über einem Jahrzehnt durch negative Realzinsen geschädigt werden, mögen ihren Unmut durch öffentlichen Protest ausdrücken. Dabei jedoch könnte sie der Verdacht von Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) treffen, als „Demokratiefeinde … das Vertrauen in unseren Staat zu erschüttern … Die Polizei im Bund und in den Ländern ist auf das mögliche neue Protestgeschehen vorbereitet.“ *7)

Noch nie hatten Sparer in der Bundesrepublik, die in vorbildlicher Weise für Lebensrisiken selbst vorsorgen wollen, unter einem derart niedrigen Realzins von aktuell etwa minus 7 % (Zinssatz (+ 1 %) minus Inflationsrate (+ 8 %) ) zu leiden.

Warum sollten diese Bürger der Politik vertrauen? Oder dem SPD-Vorsitzenden Klingbeil, der den Wahlberechtigten zuruft: „´Ein Sieg bei der Bundestagswahl reicht mir nicht. Ich will mehr`. Er sagt den Beginn eines sozialdemokratischen Jahrzehnts vorher…“.*8).

Aktuelle Umfragen belegen den Verlust an Ansehen und Vertrauen in die Regierungspartei SPD (17%!) *9)

2. Politik und Demokratie brauchen nicht Vertrauen, sondern mündige Staatsbürger.

Der sogenannte gesunde Menschenverstand wird sicher bestätigen, dass in Wirtschaft, Gesellschaft und auch in der Politik das Vertrauen zwischen “Geschäftspartnern“ die Zusammenarbeit erleichtert und oft erst ermöglicht. Und um solches Vertrauen werben schließlich alle. Warum sollte also nicht auch der Bundespräsident um Vertrauen in die Politik und die Demokratie werben.

In diesem Blogbeitrag geht es nicht um generelle Kritik am Werben für Vertrauen. Sondern um den Versuch einer kritischen Stellungnahme zu der Aussage des Bundespräsidenten Steinmeier, “Vertrauen ist .. eine Ressource, ohne die Politik nicht auskommt“. *1)

Dieser Versuch wird aus folgenden Überlegungen unternommen: Die persönliche Glaubwürdigkeit und die Amtsautorität des Staatsoberhauptes sollte Wahlberechtigte nicht zu vermeintlich demokratischer “Bringschuld“ von Vertrauen gegenüber der “Politik“ drängen. Und erst recht sollten diese nicht auf ihr Bürgerrecht des öffentlichen Protestes gegen Politik-Maßnahmen verzichten, um den Makel “Demokratiefeinde“ (Nancy Faeser) zu vermeiden.

Wahlberechtigte schulden der Politik kein Vertrauen. Die Politik schuldet den Bürgerinnen und Bürgern Rechenschaft über ihre Leistung. Die Bürger entscheiden dann, ob es der Politik durch Leistung gelungen ist, sich Vertrauen der Bürger zu erarbeiten.

Die hohen fachlichen Ansprüche an die Analyse, ob die Politik vertrauenswürdige Leistungen für die Bürger erbringt, machen die folgenden Leistungs-Kriterien der OECD deutlich. Sie mögen die kritischen Überlegungen zu Steinmeiers Vertrauensappell bestätigen.

3. Vertrauenswürdige Leistung der Politik: Kriterien der OECD.

In diesem Blogbeitrag wird vom Leitbild des demokratisch gesinnten Bürgers ausgegangen, der eigenverantwortlich und solidarisch handelt sowie eine Anspruchshaltung an den Staat auf Versorgung ohne Gegenleistung durch Arbeit und Abgaben ablehnt. Was erwarten solche Staatsbürger von der Demokratie, den Parteien und staatlichen Institutionen?

Die OECD hat für vertrauenswürdige Leistung demokratischer Politik und ihrer Institutionen Kriterien aus Sicht der Bürger untersucht. *10)

Danach wird Vertrauen der Bürger bestimmt durch ihre Erwartung von:

  1. Fachkompetenz: der Fähigkeit der Politik und der Regierung, den Bürgern die Dienste zu sichern, die benötigt werden, und dies in der erwarteten Qualität;
  2. Werten: Integrität, Offenheit und Gerechtigkeit als Grundsätze, die das Handeln von Regierungsinstitutionen leiten.

Somit lassen sich folgende Bedingungen für vertrauenswürdige Politik kurz skizzieren: (s. *10) S. 141 ff)

Mandat für das Regierungshandeln: Bereitstellung der öffentlichen Dienste; Wandel von Rahmenbedingungen erkennen; Schutz der Bürger; die Bürger informieren, konsultieren und ihnen zuhören; ethische Grundsätze im Gebrauch von Regierungsmacht und Ressourcen wahren; die sozial-ökonomischen Lebensbedingungen für alle Bürger verbessern.

Bedingungen für vertrauenswürdiges Regierungshandeln: Zugang zu öffentlichen Diensten ist nicht abhängig vom sozialen und wirtschaftlichen Rang der Bürger; angemessene Zeitnähe und Qualität der Öffentlichen Dienste; bei der Leistung von Diensten berechenbares und auftragsgemäßes Verhalten, Achtung und Offenheit gegenüber den Bürgern, auch bei deren kritischem feed-back; Herausforderungen und Entwicklungen im Bedarf der Bürger an Öffentlichen Leistungen rechtzeitig erkennen und angemessen beurteilen; in Lagen sozialer, wirtschaftlicher und politischer Unsicherheit den Öffentlichen Dienst wirksam führen; Rechenschaft und hohe Standards für das Verhalten im Öffentlichen Dienst sowie Pflichten gegen Korruption sicherstellen.

Allgemeine Bedingungen für vertrauenswürdige Politik: das Verhalten gegenüber den Bürgern ist entgegenkommend, verläßlich, anständig, rechtschaffen, offen und fair.

4. Politik kommt ohne Vertrauen aus, aber nicht ohne Kritik.

Bundespräsident Steinmeiers Satz “Vertrauen ist eine Ressource, ohne die Politik nicht auskommt“ kann nicht ohne Einschränkung akzeptiert werden.

Die Kriterien der OECD für vertrauenswürdige Leistungen der Politik durch Fachkompetenz und Wertebindung zeigen, dass es vor allem der kritischen Analyse durch mündige Bürger und durch unabhängige Medien bedarf, um Politik als vertrauenswürdig zu bewerten.

Denn je größer das Vertrauen in die Politik, desto stärker könnten Konformismus und schließlich Missbrauch politischer Macht wirken. Je stärker dagegen die kritische Politikanalyse durch mündige Bürger und durch die Medien verbreitet wird, desto wirksamer können diese “checks and balances“ den Missbrauch politischer Macht und die Korruption verhindern.

Politik kommt durchaus ohne Vertrauen aus, jedoch nicht ohne die Kritik durch wachsame, mündige Staatsbürger und an diesen orientierten unabhängigen Medien.

*1a) Interview mit der Nachrichtenplattform t-online. 18. März 2022. Die Fragen stellten: Miriam Hollstein und Sven Böll; https://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Frank-Walter-Steinmeier/Interviews/2022/220318-Interview-t-online.html (“Demokratie lebt von Vertrauen. Vertrauen braucht Nähe. Und Nähe braucht Begegnung.“).

*1b) Interview mit der Tageszeitung Mitteldeutsche Zeitung. 11. Mai 2022. Die Fragen stellte: Julius Lukas; https://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Frank-Walter-Steinmeier/Interviews/2022/220511-Interview-Mitteldeutsche-Zeitung.html. (“Vertrauen ist eben eine Ressource, ohne die Politik nicht auskommt.“)

*2) Christine Weiser. Kommentar. Sprüche und Fotos zwischen Witz und Peinlichkeit. 30.08.2011; https://www.abendblatt.de/region/lueneburg/article108093448/Sprueche-und-Fotos-zwischen-Witz-und-Peinlichkeit.html.

*3) Scholz als Kanzler? “Ich würde sofort das Gehalt von 10 Millionen Menschen erhöhen“. 03.08.2021. FOCUS Online; https://www.youtube.com/watch?v=0fM31fukiqk

*4) Andreas Kempf. Nächster Ampel-Krach. Kosten ohne Ende: Jetzt begehrt die Wirtschaft gegen Mindestlohn der Ampel auf. 30.11.2021; https://www.focus.de/finanzen/naechster-ampel-krach-kosten-ohne-ende-jetzt-begehrt-die-wirtschaft-gegen-mindestlohn-der-ampel-auf_id_24469434.html

*5) Studie zu Mindestlohn. 12 Euro für Wachstum. Ein Megathema im Wahlkampf. 03.09.2021; https://taz.de/Studie-zu-Mindestlohn/!5798943/

*6) Henrik Böhme. Rezession. Meinung: Deutschlands schleichender Abschwung. 06.08.2022; https://www.dw.com/de/meinung-deutschlands-schleichender-abschwung/a-62710654

*7) Verfassungsschutz befürchtet radikalere Straßenproteste. Meldung der dts Nachrichtenagentur vom 06.08.2022.

*8) Eva Quadbeck. Lars Klingbeil beim SPD-Parteitag: „Ich will mehr“. RedaktionsNetzwerk Deutschland. 11.12.2021; https://www.rnd.de/politik/spd-lars-klingbeil-beim-parteitag-ich-will-mehr-stichelt-gruene-an-CHNQ2CT335ASVH3FEGKC2C5IUU.html

*9) ARD-DeutschlandTREND August 2022. Repräsentative Studie im Auftrag der ARD. Sonntagsfrage zur Bundestagswahl; https://www.infratest-dimap.de/umfragen-analysen/bundesweit/ard-deutschlandtrend/2022/august/

*10) OECD GUIDELINES ON MEASURING TRUST © OECD 2017; https://www.oecd-ilibrary.org/docserver 9789264278219-en.pdf? „Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) ist eine internationale Organisation, deren Ziel eine bessere Politik für ein besseres Leben ist – eine Politik also, die Wohlstand, Gerechtigkeit, Chancen und Lebensqualität für alle sichern soll. Wir wollen die Zukunft gestalten. Dabei stützen wir uns auf knapp sechzig Jahre Erfahrung in der Analyse politischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Entwicklungen“ ; https://www.oecd.org/ueber-uns/