Vor 90 Jahren.

Reichspräsident von Hindenburg, Protagonist der unwahren “Dolchstoßlegende“ (“im Felde unbesiegt“), verantwortete auch maßgeblich, dass die Weimarer Republik zerstört wurde.

Vor 90 Jahren, im August 1933, konnte jeder sehen, welcher Mörderbande v. Hindenburg das Schicksal der ersten Demokratie in Deutschland übertragen hatte.

1. Zerstörung der Weimarer Republik: Komplizen und Gegner.

Hinter den Gewalttaten von SA und SS stand seit dem 30. Januar 1933 der Nazistaat und entfesselte sofort Folter und Mord an Kommunisten, Sozialdemokraten, Juden, Roma, Sinti und an vielen Menschen, die vor den Absichten der Nazis gewarnt hatten.

Reichspräsident v. Hindenburg und Reichskanzler Hitler vollendeten ihr Zerstörungswerk der Weimarer Republik mit dem “Ermächtigungsgesetz“, das am 23. März 1933 beschlossen wurde und am nächsten Tag in Kraft trat. Die Nazi-Diktatur hatte nun freie Bahn. *1)

Erinnert werden muss an die Schande, dass es gerade auch “bürgerliche“ Parteien waren, denen in diesem Zerstörungswerk Komplizenschaft mit der Nazipartei NSDAP anzulasten ist:

„Mit 444 Stimmen der Regierungskoalition aus NSDAP und DNVP sowie von Zentrum, Bayerischer Volkspartei (BVP) und Deutscher Staatspartei wurde das Gesetz in namentlicher Abstimmung angenommen. Lediglich die 94 Abgeordneten der SPD ließen sich nicht von den Drohgebärden der im Reichstag aufmarschierten Sturmabteilung (SA) einschüchtern und stimmten gegen die Selbstentmachtung des Parlaments.“ *1)

26 weitere Mitglieder der SPD-Fraktion waren bereits verhaftet oder vor den Morddrohungen der Nazis geflohen. Otto Wels, dem Vorsitzenden der SPD, gebührt höchster Rang in der Erinnerungskultur unseres Landes für die letzten freien Worte im Parlament der Weimarer Republik gegen die NSDAP-Führung: *2)

  • „Wir deutschen Sozialdemokraten bekennen uns in dieser geschichtlichen Stunde feierlich zu den Grundsätzen der Menschlichkeit und der Gerechtig­keit, der Freiheit und des Sozialismus. Kein Ermächtigungsgesetz gibt Ihnen die Macht, Ideen, die ewig und unzerstörbar sind, zu vernichten.
  • Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht!“

Diese Worte gegen die Nazis, die Otto Wels am 23. März 1933 fand, sind zu bewahren, weil sie die „mutigsten waren, die je im Parlament gesprochen wurden.“ *2)

Von den Nazis als “Volksverräter“ verfolgt, musste Otto Wels nach Prag fliehen. Bis zu seinem Tod in Paris, am 16. September 1939, führte er die Exilorganisation SOPADE der SPD.

Die 81 Abgeordneten der KPD konnten an der Abstimmung über das Ermächtigungsgesetz nicht teilnehmen. Der Rechtsstaat war aufgelöst, die KPD-Abgeordneten traf es zuerst; bereits am 8. März 1933 waren ihre parlamentarischen Mandate annulliert worden.

Diesem diktatorischen Akt gegen Parlamentarier diente die sogenannte „Reichstagsbrandverordnung“: Auf Vorschlag der Hitler-Regierung hatte Reichspräsident v. Hindenburg am 28. Februar 1933 die Verordnung „zum Schutz von Volk und Staat“ erlassen. Sie sollte der „Abwehr kommunistischer staatsgefährdender Gewaltakte“ dienen, obwohl als erwiesen gilt, dass die KPD nichts mit dem Reichtagsbrand zu tun hatte. Diese „Reichstagsbrandverordnung“ gab der Hitler-Regierung die Vollmachten für die Diktatur, für den Nazi-Terror gegen politische Gegner. *3)

2. Vor 90 Jahren: Justizmorde am 1. August 1933.

Nach 90 Jahren soll hier erinnert werden, dass der August 1933  mit einem Justizmord des Nazistaates begann. „Im Morgengrauen des 1. August 1933 wurden August Lütgens, Walter Möller, Karl Wolff und Bruno Tesch mit dem Handbeil geköpft: die ersten politischen Hinrichtungen der NS-Herrschaft.“ *4)

Das Ereignis, der “Altonaer Blutsonntag“, der diesen Hinrichtungen am Sonntag, dem 17. Juli 1932, vorausging, war ein „offiziell als Werbemarsch für die NSDAP“ deklarierter Umzug von 7.000 Nazis, vor allem der uniformierten SA und SS. Diese seien nach Zeugenaussagen von Beginn gewalttätig aufgetreten: „auf Passanten eingeschlagen, die ihre Hakenkreuzfahnen nicht grüßten … auf protestierende Passanten geschossen.“ *4)

Als die Polizei — „insbesondere unter den Polizeioffizieren auffällig viele Mitglieder der Nazipartei“ — im Tumult von Gewalt und Gegenwehr das Feuer eröffnete, endete der “Altonaer Blutsonntag“ mit verheerendem Ergebnis: „18 Tote, darunter zwei Nazis und zwei Kommunisten. Die anderen Toten waren unbeteiligte Zivilisten, und, ebenso wie die über 60 Verletzten und Schwerverletzten, ganz normale Altonaer Bürgerinnen und Bürger, Hausfrauen, Dienstmädchen, Handwerker und Arbeiter.“ Später sei „durch Obduktionen und Untersuchungen an den Leichen einwandfrei belegt werden, dass die Projektile zum größten Teil aus nur von der Polizei genutzten Waffen stammten.“ *4)

Staatsanwalt und Polizei hätten “überaus schnell vier KPD-Mitglieder ins Visier“ genommen. Allerdings musste das Gerichtsverfahren „gegen sie zunächst mangels Beweisen eingestellt werden – ein Ergebnis, das widerrechtlich nicht zu ihrer Freilassung führte. So gerieten der Seemann August Lütgens, der Klempner Bruno Tesch, der Schuhmacher Karl Wolff und der Arbeiter Walter Möller in die Fänge der Nazis.“ *4)

Nach der Machtübernahme Hitlers, wurden die vier Männer einem der vielen Sondergerichte ausgeliefert. Diese waren auf Anordnung Hitlers eingerichtet worden, um jeden Widerstand gegen das Nazi-Regime zu brechen. „Am 2. Juni 1933 erfolgte das erwartbare Todesurteil. Schon kurz darauf, am 1. August 1933, wurde es per Fallbeil im Hof des Altonaer Gefängnisses vollstreckt.“ *4)

Die Autorin Dr. Barbara Beuys hat für uns alle die Gedanken bewahrt, die Bruno Tesch in der Todeszelle schrieb: *5) (S. 161)

  • Zur Verkündung es Todesurteils: „Nur einmal wäre es bald mit meiner Fassung vorbei gewesen, als ich das Weinen meiner Mutter heraushörte.“
  • „Der große Umschwung in der Stimmung kam erst Tage später, … als ich mir vorstellte, dass ich erst zwanzig Jahre alt bin, wirklich nichts getan hatte und dennoch zum Tode verurteilt wurde.“
  • In seinem letzten Brief schreibt Bruno Tesch: „Wir sterben, wie wir gekämpft haben. Vergeßt mich nicht! Vergeßt mich nicht!“

3. Maßstäbe für die deutsche Erinnerungskultur.

Bernd Ulrich schließt seine Analyse der “ersten NS-Justizmorde“:

„Es dauerte in diesem gut belegbaren Fall von Meineiden, Fälschungen und Falschaussagen aber noch bis 1992, bis ein deutsches Gericht das Urteil des Nazi-Sondergerichts aufhob.“ *4)

Barbara Beuys hat zu Recht über diese Schieflage in der “Erinnerungskultur“ zum Widerstand gegen die Nazi-Diktatur festgestellt:

„Immer noch ist die positive Bewertung des gesamten Widerstandes umstritten, wird nicht Gerechtigkeit geübt, sondern werden Vorurteile gepflegt und Argumente vorgetragen, die den Widerstand — immer noch — für den aktuellen politischen Alltag dienstbar machen sollen … Auch für die Opfer vom kommunistischen Teil der Arbeiterbewegung muss gelten, was als Maßstab und Motivation für die Toten des 20. Juli akzeptiert wird: dass sie für ein besseres, ein menschliches Deutschland starben und ihre Nation vor dem Verderben bewahren wollten.“ *5) (S. 15, 16)

Nach 90 Jahren, im August 2023, wird hier gedacht: des ehrenvollen Opfertodes von Seemann August Lütgens, von Klempner Bruno Tesch, von Schuhmacher Karl Wolff und von Arbeiter Walter Möller.

*1) Lebendiges Museum Online. NS-Regime. Etablierung der NS-Herrschaft. Das „Ermächtigungsgesetz“ von 1933. Arnulf Scriba. 22. Juni 2015; https://www.dhm.de/lemo/kapitel/ns-regime/etablierung-der-ns herrschaft/ermaechtigungsgesetz.html

*2) 23.03.1933: Otto Wels und die SPD gegen das Ermächtigungsgesetz. Von Annalena Baasch. 23. März 2023; https://www.demokratiegeschichten.de/23-03-1933-otto-wels-und-die-spd-gegen-das-ermaechtigungsgesetz/

*3) Reichstagsbrand – auf dem Weg in die Diktatur. 26.02.2018; https://www.bpb.de/kurz-knapp/hintergrund-aktuell/265402/reichstagsbrand-auf-dem-weg-in-die-diktatur/.

*4) Massaker vor 90 Jahren. So kam es zum „Altonaer Blutsonntag“. Am 17. Juli 1932 kam es im damals noch preußischen Altona bei Hamburg zu gewaltsamen Unruhen – provoziert durch den Aufmarsch tausender SA- und SS-Männer durch die „rote“ Stadt: Dieser „Altonaer Blutsonntag“ beschleunigte das Ende der Weimarer Republik. Von Bernd Ulrich. 17.07.2022; https:/www.deutschlandfunk.de/altonaer-blutsonntag-hamburg-aufmarsch-altona-100.htm

*5) Barbara Beuys. Vergesst uns nicht. Menschen im Widerstand 1933 – 1945. Rowohlt. 1. Auflage September 1987.