Wahlkampf beginnt heute.

Mit dieser Feststellung zeigte Sigmar Gabriel, dass der Bürger bisher alles missverstanden hatte.

Natürlich begann der Wahlkampf nicht mit der Ernennung des Kandidaten Steinbrück, auch nicht mit dessen Wahl durch einen Wahlparteitag.

Natürlich darf der Wahlkampf erst heute beginnen. Denn heute konnte Peer Steinbrück endlich wieder glänzen – mit einer Rede. Wir wählen am 22. September aber keinen Redner, sondern Parteien. Vielleicht mit einer Mehrheit für Rot-Rot-Grün. Wenn die Mitte der Bürger nach links gerückt ist, wie die SPD-Führung glaubt, und wenn der Glaube Berge versetzen kann.

Zu solcher Erwartung passt vielleicht nicht der Kandidat Peer Steinbrück, wohl aber das SPD-Wahlprogramm, der Parteivorsitzende Gabriel und der Jubel der SPD-Linken.

Das Beste, was ich von der Betrachtung des Augsburger Treffens im TV mitnehme, sind Worte der Erinnerung an den einsamen Widerstand der SPD-Fraktion im Weimarer Reichstag gegen das Ermächtigungsgesetz für die Nazis. Und die Worte, die Christian Ude für Georg von Vollmar fand, der sich bereits ab 1890 für eine demokratisch-parlamentarische Reformpolitik im Sinne des Godesberger Programms eingesetzt hatte. Gegen August Bebel und die viel zu lange in der Sozialdemokratie vorherrschende Klassenkampf- und Revolutionsrhetorik.

Herr Gabriel machte in der Eröffnungsrede wieder deutlich, dass wir dem beabsichtigten Regierungswechsel vor allem auf dem Gebiet der Wirtschaftspolitik mit Sorge entgegen sehen müssen. Mit der Wirtschaft gehe es rapide bergab, so sagt er uns voraus. Um uns dann ein Steuererhöhungsprogramm zu präsentieren, vor dem die gesamte deutsche Wirtschaft warnt.

Per gesetzlichem, flächendeckendem Mindestlohn von € 8,50 aufwärts will die SPD Gerechtigkeit statt Arbeitsplätze für schlecht Qualifizierte fördern. Das wird nicht nur von der Wirtschaft, sondern auch von den meisten sachverständigen Wissenschaftlern abgelehnt. Der SPD scheint dabei auch belanglos, dass der gesetzliche Mindestlohn in unserem Nachbarland Polen € 2,20 entspricht. *1)

Wie viel Herr Gabriel von Wirtschaftspolitik versteht, zeigt er beharrlich, indem er Neoliberalismus mit Marktradikalismus gleichsetzt. Natürlich auch durch Verliebtheit in sein unsinniges Wortspiel „Wir wollen das Gegenteil von Merkel, nämlich demokratiekonforme Märkte statt marktkonformer Demokratie.“

Bundeskanzlerin Merkels Aussage über die Beziehung von Marktwirtschaft und Sozialstaat sowie über die Grundsätze wirtschaftspolitischer Intervention ist sachlich völlig richtig. Wirtschaftspolitische Eingriffe sollten die Funktionsweise der Märkte nicht zerstören, sondern erhalten, also „marktkonform“ konzipiert sein, dies bedeutet ihr Satz.

Die Folgen von Verstößen gegen diese Regel zeigen z.B. die horrenden Kosten der EU-Agrarpolitik. Auch das Insider-Outsider-Problem auf dem Arbeitsmarkt der 1990er Jahre, das eine verfestigte Arbeitslosigkeit von 5 Mio. Menschen bedeutete, war Folge mangelnder Marktkonformität damaliger Arbeitsgesetzgebung. Gerhard Schröder hat mit der marktkonformen Agenda 2010 neue Brücken in den Arbeitsmarkt und damit neue Chancen für Millionen Langzeit-Arbeitsloser geschaffen. Bleibendes Verdienst dieser Reformpolitik!

Davon will Sigmar Gabriel nicht mehr viel wissen. Denn wenn er mit politischer Polemik in Fahrt kommt, kennt er gar keine Rücksicht mehr. Nicht gegenüber Kanzler Schröders Leistung. Erst recht nicht gegenüber Bundeskanzlerin Merkel. Die und Finanzminister Schäuble leisteten „Beihilfe zur Steuerhinterziehung“. Ziemlich einmalige Entgleisung! Auch die eigenen Eltern werden nicht geschont: „Sanitäre Anlagen sahen früher in der Schule besser aus als bei uns zu Hause. Heute ist es umgekehrt“ …

Wie gesagt, Peer Steinbrück hielt erneut eine ausgezeichnete Wahlkampfrede: „Mehr Wir, weniger Ich.“ Die sadistischen Kameraleute ließen uns bei solchen Passagen tiefe Blicke in die Augen von Delegierten werfen. Ich glaube jedoch, dass es Peer Steinbrück damit ernst ist. Denn Steinbrück ist ein aufrichtiger Mensch.

Dies kann allerdings nicht wirklich beruhigen. Denn auf diesem SPD-Parteitag drohen politische Festlegungen, die für die Effektivität einer neuen Bundesregierung Böses ahnen lassen.

Frau Hilde Mattheis, MdB, und Herr Ralf Stegner, Landesvorsitzender der SPD in Schleswig-Holstein, stellen bereits klar, das in Augsburg beschlossene Wahlprogramm sei nicht verhandelbar, nicht kompromissfähig. Ihr Lob an Peer Steinbrück ist mit Bedingungen für einen Regierungseintritt der SPD verknüpft.

Das Steuerprogramm – Vermögenssteuer, höhere Besteuerung der Kapitalerträge, etc. – der gesetzliche, flächendeckende Mindestlohn, Rückabwicklung von Teilen der Agenda 2010, die vor allem prekäre Beschäftigung und Hungerlöhne geschaffen habe – das alles soll durch Mitgliederentscheid, so Frau Mattheis, festgeklopft werden. Damit das Augsburg-Programm „unverrückbar bleibt“.

Dann hören wir von Carsten Sieling, MdB: „Die Schuldenbremse ist Steuersenkungsbremse!“ Das heißt wohl auf SPD-Deutsch, sollten die Steuererhöhungen nicht kommen, kippt die Verpflichtung der SPD auf Einhaltung der Schuldenbremse. Hier ahnt man Inspiration durch die mächtige Ministerpräsidentin Hannelore Kraft.

All dies für Sozialliberale nicht Akzeptable steht unter dem großen Garantie-Schirm des SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel und seinem geopolitisch-historischen Voluntarismus: „Das Zeitalter des egoistischen Neoliberalismus ist vorbei“.

Dazu passt der „Wir“-Missbrauch mit der anmassend klingenden Behauptung, nun endlich werde das „Gemeinwohl“ verwirklicht. Notfalls – so ist zu befürchten – in einer Rot-Rot-Grün-Regierung und mit dem verbündeten französischen Staatspräsidenten François Hollande in einer EU-Koalition. Hoffentlich erinnern sich viele Bürger der SPD-Wallfahrt zu Staatspräsident Hollande, damit wenigstens die Erwartungen an solches Programm klein gehalten werden.

Wegen unserer Schicksalsgemeinschaft Europäische Union bin ich in der Europapolitik ziemlich empfindlich gegenüber Anzeichen von Inkompetenz. Schon Peer Steinbrücks Versicherung, sich nicht „verbiegen“ zu lassen, bei seiner „Kernigkeit“, bei seiner „Klartext“-Neigung zu bleiben, verspricht keine europapolitische Effektivität. Wie oft wird ihm bei Brüsseler Nachtsitzungen die Sicherung durchbrennen? Aber halten wir uns an sein Versprechen, uns als „Volk guter Nachbarn“ zu repräsentieren.

Den Rest gaben mir Ausführungen des an sich sehr geschätzten EU-Parlamentspräsidenten Martin Schulz. Schulz zählt zu den wichtigsten europapolitischen Beratern Peer Steinbrücks.

Hart ging Martin Schulz mit den Finanzministern der Eurogruppe ins Gericht. Weil sie in einer Nacht- und Nebelaktion beschlossen hätten, den Einlegern zypriotischer Banken ab Guthaben von € 100 Tsd. aufwärts eine Beteiligung an den Sanierungskosten aufzuerlegen. Ja, hat er denn vergessen, dass er selbst dieses Vorgehen zunächst befürwortet hatte – allerdings ab einem Freibetrag von nur € 25 Tsd. *2).

Jedoch über die folgende Aussage des EU-Parlamentspräsidenten komme ich nicht hinweg. „Wer Zugang zum großen europäischen Binnenmarkt haben will, der muss unsere Ethik, unsere Transparenzkriterien akzeptieren,“ rief Martin Schulz, EU-Parlamentspräsident, in den Augsburger Saal. Der Winter geht zwar zu Ende, aber kein Gas, kein Öl mehr aus Russland oder aus dem Mittleren Osten? Oder ist die SPD soweit, dass sie in Russland und Saudi-Arabien unsere Ethik, unsere Transparenzkriterien erfüllt sieht?

Im September jährt sich zum 55. Male der Tag, an dem der liberale Bundespräsident Theodor Heuss zu Soldaten der Bundeswehr bei einem Manöverbesuch sagte: „Nun siegt mal schön“. Beim Manöver der Parteisoldaten in Augsburg rief Peer Steinbrück „Auf in den Kampf“. Beides zusammen zu bringen, ist mir leider nicht möglich.

*1) http://de.statista.com/; Gesetzliche Mindestlöhne pro Stunde in der Europäischen Union (Stand: 1. Januar 2013)
*2) www.tagesschau.de/wirtschaft/zypern; 21.03.2013. RS: Unter dieser Quelle inzwischen nicht mehr zu finden. Siehe jedoch: www.focus.de/finanzen/news; EU-Parlamentspräsident Schulz fordert Freibetrag für Zyperns Kleinsparer; Sonntag, 17.03.2013; „… EU-Parlamentspräsident Martin Schulz lobt die Beteiligung der Bank-Kunden, fordert aber einen Freibetrag …“. Ebenso: tagesspiegel.de/politik; Sparen mit Sparern,
18.03.2013; von Matthias Schlegel und Christopher Ziedler; „… EU-Parlamentspräsident Martin Schulz (SPD) fordert deshalb einen Schutz für Kleinsparer: Ihnen sollte ein Freibetrag von 25 000 Euro zugesagt werden.“