Welches Amt für Martin Schulz?

Anfang November 2013 nominierte das Präsidium der Sozialdemokratischen Parteien Europas (SPE) Martin Schulz als Spitzenkandidaten der europäische Sozialdemokratie für die Wahl zum Europäischen Parlament.

Das ist ein großer Vertrauensbeweis für den angesehenen Präsidenten des EU-Parlaments. Und ein weiterer europäischer Fortschritt: Die verschiedenen Parteien der EU-Länder konturieren sich zunehmend als europäische Partei-„Familien“.

Martin Schulz kandidiert zwar für das Europäische Parlament, hat jedoch bereits vor der Wahl erklärt, dass er seine künftigen Aufgaben als Präsident der Europäischen Kommission sieht. Dies werden nicht wenige europapolitisch engagierte Bürger bedauern.

Dafür lassen sich die folgenden Gründe denken und näher untersuchen.

Europapolitischer Kontext: Krisenpolitik.

Ob oder wie die Eurozone nach der schweren Finanz-, Wirtschafts- und Staatsschuldenkrise stabilisiert werden kann, ist fraglos das entscheidende europapolitische Thema kommender Jahre.

Wer wollte bezweifeln, wie sehr das Vertrauen vieler stabilitätsbewusster Europäer erschüttert worden ist. Anzeichen einer Wende zeichnen sich ab. Die Europäische Zentralbank (EZB) hat entscheidend dazu beigetragen.

Bundeskanzlerin Merkel hat sich im Europäischen Rat der Regierungschefs ein hohes Maß an Vertrauen erarbeitet. Das gleiche gilt für Bundesfinanzminister Schäuble – auch Peer Steinbrück ist zu würdigen – auf der Ebene des Ministerrats EcoFin. Dies war ein weiterer Stabilitätsanker in der Krise. Ein Anker gegen Abdriften in politisches Chaos und in Panik von Bürgern, die um die Zukunft, ihre Arbeit und ihre Ersparnisse fürchten.

Die Maßnahmen, um die Staatsschulden- und Vertrauenskrise zu überwinden, wurden durch zähe Verhandlungen der Regierungen von „Geberländern“ mit den „Programmländern“ des europäischen Südens erreicht – im Verbund mit der Kommission der EU, der EZB und mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF): Finanzielle Hilfe bei Reformen für Staatshaushalte ohne neue Schulden und für wettbewerbsfähige Wirtschaft.

Die Troika-Experten (EU-Kommission, EZB und IWF) begleiteten diesen Prozess. Dessen Ergebnis bisher: Kein Programmland hat die Eurozone verlassen, ökonomische Indikatoren deuten auf beginnende Erholung.

Dieser Kontext der Krise wurde kurz rekapituliert, um die Methode der Krisenpolitik zusammenzufassen: Suche nach maximalem Konsens in der Eurozone und zwischen den europäischen Institutionen: Rat, Kommission, EZB.

Der Präsident der Europäischen Kommission.

Daraus ergeben sich die offensichtliche Anforderungen an den Präsidenten der Europäischen Kommission: Eine Persönlichkeit mit Regierungserfahrung sowie der Arbeitsweise und Haltung eines „politischen Feinmechanikers“. Jacques Delors (1985 – 1995), Romano Prodi (1999 – 2004), José Manuel Barroso (2004 – 2014) haben – bei allen Unterschieden – dieses Amtsverständnis gepflegt.

Kurzzeitig war der Spanier Manuel Marín (1999) Präsident der EU-Kommission. In der Presse seines Landes wird er als „konfliktiv“ beschrieben. Da haben die Spanier noch nicht einen „kämpferischen Linken“ wie Martin Schulz erlebt. *1)

Martin Schulz und die EU-Institutionen.

Dazu einige Klartexte von Martin Schulz. Erlauben diese europapolitischen Rundumschläge Mutmaßungen über seine Amtsführung als Präsident der Europäischen Kommission?

Beispiel 1 – Attacke gegen den Europäischen Rat der Regierungschefs.

„Diese Herrschaften, die sich zur Regierung Europas erklären, ziehen alles an sich, verraten aber nicht, dass sie damit den Lissabon-Vertrag eigentlich verraten. Denn im Europäischen Rat herrscht eben nicht dass Mehrheitsprinzip, sondern das Einstimmigkeitsprinzip. Durch die Hintertür führen dieselben Leute, die ständig erklären, Europa müsse effizienter werden, die Ineffizienz per System, das Einstimmigkeitsprinzip, wieder ein. Schuld sind die Regierungschefs.“ *1)

Eine denkwürdige Schuldzuweisung zur konsensbestimmten Politikentwicklung im Europäischen Rat.

Beispiel 2 – Attacke gegen die Europäische Kommission.

Die EU-Kommission „mischt sich in zu vielen Bereichen ein“. Da würden ihm viele Bürger zustimmen. Deswegen sagt er es ja. Aber Schulz verheißt, dass er als EU-Kommissionspräsident „umfassende Veränderungen“ vornehmen werde. *2) Umso mehr als er weiterhin feststellt: „Die EU ist in bejammernswertem Zustand … tödlich bedroht … Vertrauensverlust … Führungslosigkeit *3).

Martin Schulz will daher als EU-Kommissionspräsident die ganze EU umbauen und reformieren. Was kommt da auf die EU zu? Wie soll der Wahlbürger solche Ankündigungen deuten? Als Wahlpropaganda oder als falsche Lagebeurteilung?

Bundeskanzlerin Merkel stellt zu diesem Thema fest, was seit Jean Monnet („Methode Monnet“) alle EU-Reformen kennzeichnet: „Man komme ´Millimeter für Millimeter` (A. Merkel) voran.“ *4)

Beispiel 3 – Attacke gegen den Europäischen Gerichtshof (EuGH).

Die Krise der letzten Jahre scheint bei Martin Schulz kaum Eindruck in bezug auf die Rolle von internationalen Finanzmärkten hinterlassen zu haben: „Mir geht das tierisch auf die Nerven, dass wir hier dauernd über das Vertrauen der Märkte reden. Merkel spricht zum Beispiel von einer marktkonformen Demokratie, die wir brauchen. Es ist umgekehrt, wir brauchen einen demokratiekontrollierten Markt.“ *1)

Will er uns Bürger glauben machen, die internationalen Finanzmärkte könnten in „demokratiekontrollierte Märkte“ verwandelt werden? Könnten so gezwungen werden, wenig glaubwürdige Staaten und ihre Schuldverschreibungen mit positiven „Ratingurteilen“ zu versehen? Oder gar deren Staatsanleihen zu erwerben?

Bei dieser Wahrnehmung von Märkten kann seine Meinung über die Freiheiten im EU-Binnenmarkt und ein klarstellendes Urteil des EuGH nicht überraschen. Folgendes gab Schulz auf dem SPD-Parteitag Leipzig zum Besten, gewürzt mit der Bemerkung „Ich glaub‘, ich bin im Walde“.

„Wir müssen erleben, dass in Schweden, einem traditionell gewerkschaftsfreundlichen und sozial gerechten Land Tarifverträge angefochten werden, und zwar von Betrieben aus anderen Ländern, die unter Berufung auf die Angebotsfreiheit und die Dienstleistungsfreiheit schwedische Tarifverträge unterbieten wollen … Da urteilt der Europäische Gerichtshof, dass die Binnenmarktfreiheiten der EU höherrangig seien als das Sozialrecht ihrer Mitgliedstaaten. Ich wiederhole das: Die Freizügigkeit von Dienstleistungen, Waren und Kapital sei höherrangig als die Sozialstandards der Mitgliedstaaten.“ *5)

Diese Aussage ist mindestens grob irreführend. Es ist das Verdienst der taz, hier Klarheit über den wahren Sachverhalt hergestellt zu haben. *6)

Das lettische Bauunternehmen Laval sollte in Schweden eine Schule renovieren. Dabei wurden lettische Bauarbeiter eingesetzt. Schwedische Gewerkschaften wollten Laval zwingen, diesen lettischen Arbeitern schwedische Löhne zu zahlen. Lavals Baustellen wurden blockiert, was nach schwedischem Recht erlaubt war.

Der Europäische Gerichtshof hatte im Fall Laval Ende 2007 entschieden, „dass die Boykottmaßnahmen gegen die EU-Entsenderichtlinie verstießen. Danach kann von ausländischen Baufirmen nur die Beachtung von Mindestlöhnen oder allgemein verbindlichen Tarifverträgen verlangt werden. Die Durchsetzung von Tarifverträgen, die nur für Gewerkschaftsmitglieder gelten, sei in der Entsenderichtlinie nicht vorgesehen.“ *6)

Letzteres war in Schweden jedoch der Fall. Und deshalb war der Gewerkschaftsboykott gemäß dem EuGH-Urteil gegen Laval ein rechtswidriger Verstoß gegen die EU-Entsenderichtlinie.

Die Attacke von Martin Schulz auf den EuGH verrät erneut ein merkwürdiges Verständnis von Märkten, insbesondere dem Europäischen Binnenmarkt. Der bietet den armen Mitgliedsländern der EU im östlichen Europa Chancen, sich durch Fleiß und niedrigere Löhne Wohlstand zu erarbeiten. Das wird von Schulz ganz leichtfertig verallgemeinernd als „Dumping“ diskreditiert.

Für einen europäisch denkenden Bürger ist diese Herabsetzung durch Schulz nicht akzeptabel. Im Sinne europäischer Chancengerechtigkeit durch den freien Binnenmarkt – darauf weist die taz hin – sind in Deutschland „gewerkschaftliche Boykottmaßnahmen gegen ausländische Firmen verboten“ *6)

Vor Millionenpublikum im TV und vor dem SPD-Parteitag behauptete Martin Schulz, dass für den EuGH die Freiheit der Unternehmer im Binnenmarkt wichtiger sei als die sozialen Rechte der Beschäftigten.

Diese Behauptung wurde von EuGH-Richter Thomas von Danwitz zurückgewiesen: „Da gibt es keine Rangfolge. In den EU-Verträgen ist beides stark verankert. Gewerkschafter haben den Eindruck, der EuGH führe so etwas wie ein ´Grundrecht auf ungestörtes Sozialdumping` ein. Das stimmt natürlich nicht.“ *6)

Beispiel 4 – Attacke gegen die EU-Krisenpolitik der Bundeskanzlerin.

Martin Schulz (SPD) hat die von Bundeskanzlerin Merkel vorgeschlagenen verbindlichen Reformverträge zwischen Euro-Staaten und der EU kritisiert: „Wenn dabei der Eindruck entsteht, es handle sich um eine von Brüssel oder womöglich gar von den Deutschen aufoktroyierte Maßnahme, dann droht der EU weiterer schwerer Vertrauensverlust.“ *2)

Nun erscheint wirklich Sachkundigen – wie Mario Draghi, EZB-Präsident, Herman Van Rompuy, Präsident des EU-Rates, und José Manuel Barroso, Präsident der EU-Kommission – dieser Ansatz, „Konvergenzpartnerschaften“ zu bilden, als nachhaltiger Weg aus der Krise der Eurozone.

Die Regierungen in der EU – nicht nur die der Programmländer – würden sich nach diesem Gedanken der Bundeskanzlerin vertraglich zu Reformen für solide Staatshaushalte und wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit verpflichten. Und bei entsprechenden Fortschritten würden die EU-Länder dann finanzielle Anreize aus einem neu zu schaffenden Budget erhalten.

Es käme also zu einer nachhaltig „bindenden Partnerschaft zwischen Mitgliedsstaaten, der EU-Kommission und dem Rat“, um die europäische Krise zu überwinden. *2).

Hoffnung: Hohe Ämter prägen.

Die Attacke von Schulz gegen den Ansatz der Bundeskanzlerin für eine mittelfristige Krisenpolitik in der EU mag für Bürger, die an die Zukunft, ihre Arbeit und ihre Ersparnisse denken, die größten Sorgen auslösen.

Was mag geschehen, wenn sich die Ambition des wahlkämpfenden EU-Parlamentspräsidenten Martin Schulz, Präsident der EU-Kommission zu werden, erfüllen sollte.

Chaos und Dauerkonflikt zwischen dem Präsidenten der EU-Kommission und dem EU-Rat? Oder vollständiger Wandel des „kämpferischen Linken“ *1), wie Martin Schulz sich gern bezeichnen ließ.

Sein kämpferischer Elan könnte als Kommissar für eine EU-Sozial-Union weit tragen: Zum Beispiel gegenüber Rumänien und Bulgarien, um deren EU-Pflichten in der Behandlung ihrer Roma und Sinti durchzusetzen. Oder die dort unsägliche Korruption – von der Schule, den Universitäten bis in die staatlichen Stellen aller Ebenen – zu bekämpfen.

Auch als Kommissar für die EU-Erweiterung könnte sein Kampfgeist Beitrittsaspiranten im Westbalkan oder der Türkei oder gar der Ukraine beeindrucken.

Statt dessen will der „kämpferische Linke“ das Amt des Präsidenten der EU-Kommission. Ein Amt, das von Staatsmännern und „europapolitischen Feinmechanikern“ mit langem Atem nach der „Methode Monnet“ – EU-Fortschritt „Millimeter für Millimeter“ (A. Merkel) – geprägt wurde.

Da bleibt dem Bürger nur die Hoffnung, dass Prägung auch umgekehrt – vom Amt auf die Persönlichkeit – wirken kann.

*1) Schulz: Merkel und Sarkozy beschädigen die EU-Institutionen, Interview mit Martin Schulz, Thomas Mayer, derstandard.at, 21. Dezember 2011.

*2) derStandard.at, 20.01.2014 und Interview in der Süddeutschen Zeitung 20.01.2014: „Martin Schulz (SPD), Präsident des Europäischen Parlaments, hat die EU-Kommission scharf kritisiert. Im Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung .. kündigte er umfassende Veränderungen für den Fall an, dass er nach der Europawahl im Mai Präsident der Europäischen Kommission werden sollte“.

*3) „Die EU ist in bejammernswertem Zustand“; www.general-anzeiger-bonn.de, 18.01.2014. Was bloß hat er sich bei dieser seiner Einschätzung der EU gedacht, als er 2012 den Friedensnobelpreis für die EU entgegennahm? Seit 20 Jahren gehört er dem EU-Parlament an. Sieht er diese Tatsache auch mit Bezug auf seine Diagnose?

*4) Merkel gegen die Reformmuffel. Von Gregor Peter Schmitz, Brüssel, SpiegelOnline, 20. Dezember 2013.

*5) Rede von Martin Schulz auf dem ordentlichen SPD-Bundesparteitag am 14.November 2013 in Leipzig.

*6) Der EuGH und das (un)soziale Europa. „Kritik ist nicht berechtigt“. Interview mit Thomas von Danwitz, Richter des EuGHs in Luxemburg. Interview Christian Rath, taz.de/‎12.09.2008. (An dem von Martin Schulz kritisierten EuGH-Urteil war Richter von Danwitz nicht beteiligt).