Wer ist der Seigneur?

Hier geht es um einen heute nicht eben gebräuchlichen Begriff. Der Seigneur steht für Adel in der Gesinnung, für eine im besten Sinne vornehme Haltung, die Distanz zum gemeinen Getriebe mit Skepsis gegenüber dem Zeitgeist und mit Eleganz des Auftretens verbindet.

Der ehemalige Bundesminister des Innern, Herr Rechtsanwalt Otto Schily, hat die Haltung des Grandseigneurs in einem politisch-historischen Gespräch mit zwei hervorragenden Journalisten der ZEIT verkörpert. *1) Bis …

… Nun, an dieser Stelle sei vorausgeschickt, dass mich die Politik für Innere Sicherheit und die feste transatlantische Position des Herrn Bundesministers Schily immer sehr beeindruckt haben. Dagegen hatte ich als Gewerkschaftsmitglied (seit über vier Jahrzehnten) die Kritik des DGB-Vorsitzenden, Herrn Michael Sommer, an der Agendapolitik des Bundeskanzlers Gerhard Schröder überhaupt nicht teilen können.

Nun muss der Faden wieder aufgenommen werden; das gebietet die Verpflichtung gegenüber einer ehemaligen Kommilitonin, der ich von dem eindrucksvollen Interview Herrn Schilys berichtete. Die Kommilitonin hatte mich — mit ihrer angeborenen Herzensbildung und raschem Verstand — auf den von mir leider übersehenen Punkt aufmerksam gemacht, der alsbald zur Sprache kommen wird.

Also, Herr Schily verkörperte im ZEIT-Interview den Grandseigneur: Sein Leben lang war Herr Schily Skeptiker, suchte er die Distanz, für ihn eine „Stilfrage“.

Es spricht für Herrn Schilys Format, wenn er dies konsequent bei seinem politischen Aufstieg im Milieu der GRÜNEN und direkt anschließend der SPD hat durchhalten können.

Vor allem in kritischen Zeiten. Als er Ende 1989 fast innerhalb eines Jahres, erstens, bei der Wahl zum Vorstand der grünen Bundestagsfraktion scheiterte, zweitens, das grüne Bundestagsmandat unverzüglich niederlegte, und, drittens, es schaffte, bereits im Dezember 1990 für die SPD in den Deutschen Bundestag einzurücken. Und es sodann schaffte, die SPD-Karriere unter dem Kannibalismus einer bunten Reihe von SPD-Vorsitzenden fortzusetzen. Um schließlich in der Seilschaft Gerhard Schröders erfolgreicher Bundesminister des Innern zu werden.

Und das in einer rot-grünen Koalition. Aber die Grünen mussten — als Kellner des Kochs Gerhard Schröder — Herrn Otto Schily als Innenminister mitsamt dem eher wenig grün-liberalen sicherheitspolitischen „Ottokatalog“ hinnehmen. Und dies noch dazu aus zähneknirschender Dankbarkeit; denn wie Herr Schily im ZEIT-Interview behauptet: „Ich nehme sowieso für mich in Anspruch, den Politiker Joschka Fischer erfunden zu haben.“ *1)

Ein atemberaubend politisches Meisterstück aus der Distanz des Grandseigneurs! Ein faszinierendes Gebiet für eine politikwissenschaftliche Analyse, die hoffentlich bald der Öffentlichkeit vorgelegt wird.

Wie gesagt, Herr Schily verkörperte in dem herausragend informativen ZEIT-Interview den Grandseigneur. Bis … ja, bis die Rede auf den ehemaligen DGB-Vorsitzenden, Herrn Michael Sommer, kam.

Dazu wusste Herr Schily folgendes öffentlich auszubreiten, um seinen Status als Grandseigneur zu verdeutlichen:

„Als Innenminister war es mir gelungen, beim Thema Dienstrechtsreform die beiden Gewerkschaften zusammenzubringen, den Deutschen Beamtenbund und ver.di. Doch das passte dem DGB-Vorsitzenden Herrn Sommer nicht. Er kam in mein Ministerbüro und meinte, Otto, das hättest du mit dem DGB abstimmen müssen, Otto, so geht das nicht. Er sagte immer: Otto. Das ging mir erkennbar gegen den Strich. Also sagte ich, nein, Herr Sommer, das sehen Sie falsch. Und blieb unbeirrt beim Sie. Sommer war sichtlich gekränkt. Aber mich duzt man eben nicht so einfach.“ *1)

Der Grandseigneur, Herr Schily, wusste sehr wohl, dass der DGB-Vorsitzende, Herr Sommer, mit Bundeskanzler Schröder über Kreuz war, persönlich und arbeitsmarktpolitisch.

Da war es politisch leicht für den Herrn Bundesminister, Herrn Sommer „antanzen“ zu lassen, in das Ministerbüro, und zu zeigen, welchen Gesprächsstil ein sozialdemokratischer Grandseigneur pflegt.

Den Vorsitzenden des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), Herrn Michael Sommer, hatte ein sehr berechtigtes organisationspolitisches Anliegen zu Herrn Minister Schily geführt.

Ver.di ist bekanntlich eine der großen Mitgliedsgewerkschaften im DGB. Der Deutsche Beamtenbund hat jedoch mit dem DGB gar nichts zu tun. Manchmal mag dessen Interessenpolitik vom DGB eher kritisch beurteilt werden. Die Bedenken, die der DGB-Vorsitzende, Herr Sommer, Herrn Minister Schily vortrug, werden jedem mit der Struktur des Öffentlichen Dienstes Vertrauten einleuchten.

Warum hatte Herr Minister Schily es nötig, den Parteifreund, den DGB-Vorsitzenden, Herrn Michael Sommer, der um Termin, um Gespräch im Büro des Ministers bitten musste, noch obendrein einem Gesprächsstil zu unterziehen, der Herrn Sommer „sichtlich gekränkt“ (Schily) gehen ließ?

Warum hat Herr Schily es nach über einem Jahrzehnt nötig, diese persönliche Kränkung, die er Herrn Sommer zufügen konnte, so genüßlich vor der Öffentlichkeit auszubreiten?

Wer ist hier der Seigneur, der Herr vornehmer Gesinnung? Herr Otto Schily oder Herr Michael Sommer?

Hut ab vor dem großen Gewerkschaftler, Arbeitsmarkt- und Sozialpolitiker, vor dem anständigen Herrn Michael Sommer!

*1) Otto Schily. „Ich bin nichts ganz. Ich bin ein ewiger Skeptiker“. Otto Schily suchte sein Leben lang die Distanz — als Anwalt, als Minister. Zum Gespräch empfing er uns trotzdem in seinem Haus in der Toskana … Ein Interview von Hans Werner Kilz und Stephan Lebert. ZEITMAGAZIN NR. 13/2015 10. APRIL 2015.