Willkommenskultur – Genossin Yasmina Banaszczuk.

Wieder hat mich eine geschätzte Kommilitonin als Sozialdemokraten auf einen Vorgang angesprochen, der die SPD betrifft, mir jedoch entgangen war: den Parteiaustritt von Frau Yasmina Banaszczuk. *1)

Nach freundlicher Ermahnung habe ich mir die erreichbaren Beiträge der hochqualifizierten, jungen Genossin Yasmina angesehen.

Resultat vorweg: Ein leider nicht vermiedener Schritt, dieser Parteiaustritt einer auch im Wahlkampf engagierten Genossin. Non-konformistischer, starker Einsatz für Positionen, die von der Partei-Linie abweichen, scheint in der SPD nicht nur unwillkommen, sondern wird offenbar vom Vorsitzenden ziemlich unangemessen bewertet.

Sigmar Gabriel habe Yasminas Engagement für ein „Mitgliederbegehren gegen die Vorratsdaten-Speicherung“ wie folgt kommentiert: „Diese Arschlöcher im Internet labern immer nur Scheiße und haben gar keine Ahnung!“ *1)

Dann bei einer Veranstaltung des STERN über Willy Brandt am 25. Oktober 2013 habe Sigmar Gabriel den beiden jungen Wissenschaftlerinnen Kathy Meßmer und Yasmina Banaszczuk erneut erklärt: „Diese Internetaktivisten und Internetaktivistinnen wären ja alle Berliner Intellektuelle, die keine Ahnung von Lebensrealitäten und „richtigen“ Wahlkreisen hätten.“ *1) Damit war für Genossin Yasmina der Entschluss zum Austritt aus der SPD besiegelt.

Die beiden Autorinnen hatten in einem wissenschaftlichen Beitrag analysiert, wie geistige und politische Vielfalt innerhalb der SPD behindert wird. *2)

Das Ergebnis ihrer Untersuchung: „Am Beispiel der SPD zeigt sich besonders eindrucksvoll das Spannungsverhältnis zwischen dem Anspruch als Diversitätlebende Volkspartei und der Realität als Ungleichheitenreproduzierende Männerpartei … Werkzeuge zur Erhöhung von Beteiligung sowie Quoten und Quoren, die der Diversität zugutekommen sollen, werden dabei allerdings so lange scheitern, wie die gelebte parteiliche Kultur ihren eigenen Habitus zelebriert und sich durch eindeutige Rollenzuweisungen absichert: Frauen* kümmern sich um Familienpolitik, Migrant_innen um Integrationspolitik, während Männer* ohne Migrationshintergrund, die oftmals aus der Mittel- oder Oberschicht stammen, für sich statusträchtigere Ressorts beanspruchen. Ein solcher Widerspruch führt schließlich dazu, dass methodisch gute Instrumentarien wirkungslos bleiben, während es notwendig wäre, die eigene Parteikultur zu reflektieren und habituell erlernte Rollen zu überwinden.“ *3)

Mich überrascht dieser Vorgang nicht übermäßig, da ich von Jüngeren schon eine Menge über die so oft posaunte „Willkommenskultur“ der SPD zu hören bekam!

Eines sollten sich Sozialdemokraten in jedem Fall verkneifen: bei Yasmina Banaszczuk an Humor zu appellieren. Humor ist eine Fähigkeit, um die viele ihr Leben lang aus vielen Gründen vergeblich kämpfen.

Hier möchte ich einer Ursache solcher Konflikte zwischen SPD und politisch engagierter Jugend mit radikalen Ideen nachgehen.

Vereinfachend lässt sich eine Partei definieren als Organisation, die Information verarbeitet und kommuniziert, um zu regieren. Politische Inhalte oder Ideologie beiseite lassend, haben wir es mit einer Gruppe von Funktionsträgern zu tun. Dazu hatte der CDU-Politiker Wolfgang Bosbach, MdB, kürzlich festgestellt: In der Politik gibt es Personalfragen und Sachfragen. Die wichtigste Sachfrage für den Politiker lautet: Wo bleibe ich?

Bleiben wir bei Bosbachs Abstraktionsgrad, so lässt sich eine Partei als Organisation mit den Aufgaben Information und Kommunikation durchaus mit einer Bibliothek vergleichen. Damit können wir die oben angesprochenen Konflikte zwischen Funktionsträger der Organisation und dem „revolutionären“ jungen Erneuerer durch ein literarisches Vorbild verdeutlichen.

Hier ist der Konflikt in Organisationen zwischen engagierter rebellischer Jugend und Funktionsträgern in Reinkultur: „Die Revolution in der Bibliothek von Totstadt.“ *4)

In dieser Bibliothek dienten seit langem zwei Bibliothekare. Ihr Dienst war so hingebungsvoll wie ihr Wunsch, die Bibliothek ohne Leser bei weitgehend konstantem Buchbestand zu führen.

Nachdem auf diese Weise das Informationsziel in geordnete Bahnen gelenkt war, konnte die Kommunikation auf interne Konflikte beschränkt werden.

Die Streitfrage: Sollte der Bücherbestand zuerst nach Sachgebieten und dann nach Sprachen oder erst nach Sprachen und innerhalb dieser nach Sachgebieten geordnet werden? Auch bei Latinos siegt schließlich der Sture: In der Totstädter Bibliothek also der „Materialist über den Linguisten“ (Unamuno). Danach herrschten Eintracht, Ruhe, Routine.

Niemand habe später erklären können, wie es zum Unglück kam. Ein dritter Bibliothekar tauchte auf – jung, enthusiastisch, innovativ. In den Augen der altgedienten Kollegen ein wahnsinniger Revolutionär.

Die Ideen des Neuen: Erstens, Ordnen des Bestandes nach Größe der Bücher, um den ungleichen Regalraum besser zu nutzen. Zweitens, damit Platz zu schaffen, um den Bestand zu erweitern. Drittens, den langjährigen Rückstand des Katalogs aufzuarbeiten, ein neues wissenschaftlich erprobtes System der Katalogisierung einzuführen, um den Bücherschwund zu stoppen.

Diese Ideen hatten die schlimmsten Folgen in der Organisation. Neue Methoden und mehr Arbeit. Ein zäher, hinhaltender Kleinkrieg gegen den Revolutionär begann.

Niemand unterschätze die Tücke der Alten. Langsam aber sicher trieben sie den jungen, innovativen Enthusiasten zur Verzweiflung. Er geriet außer sich und begann schließlich im Zorn, die Bücher aus Paketen und Regalen auf den Boden zu werfen.

Der junge Bibliothekar wurde mit seinen Kollegen vor den Obersten Bibliotheksrat des Landes zitiert. Dort wiederholte er seine Vorwürfe. So sehr erregte er sich über die systematische Sabotage seiner Arbeit durch die beiden Alten, die aus seiner Sicht nichts war als Faulheit, Dummheit, Unfähigkeit und Korruption, dass er darin die Symptome des Verfalls in Spanien erkannte.

Und er schrie seine Wut hinaus: Es herrsche die Partei des Schwachsinns, geführt von ein paar Schurken, die unser Vaterland ruinieren.

Tumult in der Versammlung und der Zwischenruf, was dies denn mit der Ordnung und Katalogisierung der Bücher zu tun habe. Würdevoll der junge Bibliothekar: Alles hängt mit allem zusammen!

Die Bewertung sei dem Leser überlassen. Mit fliegender Fahne untergehen? Oder der Stoßseufzer Unamunos: Gott schütze uns davor, dass es irgendeinem Verrückten einfällt, uns nach der Größe zu sortieren.

Zurück zur SPD. Die wünscht sicher dringend Nachwuchs. Aber wohl sortiert nach ausgeprägtem Augenmaß und Sinn für die Hierarchie, die Ordnung und die Regeln der Organisation. Bloß keine Überzeugungstäter. Vielleicht lieber etwas faul als fanatisch.

Und zu Yasmina Banaszczuk: Solche Fähigkeit zu Analyse, Kommunikation und Einsatz findet immer einen angemessenen Platz. Ich bin sicher, wir werden in Wissenschaft oder Journalismus noch von dieser jungen Frau hören. **5)

*1) Sozialdemokratie. Warum ich aus der SPD ausgetreten bin. EIN GASTBEITRAG VON YASMINA BANASZCZUK; www.zeit.de/politik/deutschland/2013-11/spd-partei-austritt, 4. November 2013.

*2) Siehe *1) und vgl. v.a. Anna-Katharina Meßmer und Yasmina Banaszczuk, Habitus ist Macht – politische Partizipation in Parteien, in: Momentum Quarterly, Zeitschrift für Sozialen Fortschritt, Vol. 2, No. 2, p. 77-91. Auch Andrea Nahles sei der Diskussion ausgewichen, obwohl sie um Zusendung des wissenschaftlichen Beitrags gebeten hätte. Und bei den Jungsozialisten – Jusos in der SPD – habe ich bis heute auch keinen Kommentar zum Fall Yasmina Banaszczuk gefunden. Letzteres verwundert mich am meisten (http://www.jusos.de/search/node/Yasmina%20Banaszczuk; „Diese Suche lieferte keine Ergebnisse“).

*3) S. *2), S. 88, 89. Den Stern * bei „Frauen*“ und „Männer*“ verwenden die Autorinnen wegen der hauptsächlichen Beschäftigung „mit Cisgendern, d.h. Menschen, bei denen – im Gegensatz zu Transgendern – Körpergeschlecht und Geschlechtsidentität zusammenfallen … Dabei wird die Schreibweise mit dem Gender* verwendet, um darauf aufmerksam zu machen, dass es sich dabei nicht um essentielle Kategorien handelt … Weiterhin wird auf das generische Maskulinum verzichtet und stattdessen der Gender_Gap verwendet.“ S. Fußnote 1, S. 78.

*4) Miguel de Unamuno: Die Revolution in der Bibliothek von Ciudámuerta. In: Die 98er Generation. Wegbereiter des modernen Spanien? dtv zweisprachig, München 1977. Hinweis: Im obigen Text freie, verkürzte Nacherzählung und Übertragung aus dem Spanischen von RS.

*5) Nachtrag 20.11.2013: Wiener Sozialdemokraten wertschätzen offenbar die politische Beratung durch und den Dialog mit der ehemaligen Genossin Yasmina Banaszczuk. Vgl. Hahnenkämpfe und ältere Männer; Interview Maria Sterkl; derstandard.at, 20.11.2013.