Wohin will der “globale Süden“?

Die hochindustrialisierten Länder des demokratischen “Westens“ — solidarisch gefordert in den Kriegen Russlands gegen die Ukraine und der Hamas gegen Israel — entfremden sich auch durch dieses Engagement zunehmend vom “globalen Süden“ (Schwellenländer und arme Entwicklungsländer).

1. “Globaler Süden“ gegen den demokratischen “Westen“?

Die Länder des “globalen Südens“ sehen sich mit schweren Hindernissen auf ihrem Pfad zu einer Entwicklung für Wohlstand und soziale Stabilität konfrontiert. Dafür machen sie die Industrieländer verantwortlich.

Sie werfen den westlichen Industrieländern vor, in maßloser Gier nach Reichtum durch Raubbau und Ausplünderung von Bodenschätzen die Umwelt und die Artenvielfalt der Entwicklungsländer schwer beschädigt zu haben. *1)

Zudem seien gerade die Industrieländer selbst Hauptverursacher der Erderhitzung, unter denen der globale Süden am meisten leide. Daher weisen viele Entwicklungs- und Schwellenländer unter Berufung auf das Verursacherprinzip die Forderungen gerade der heute hochentwickelten Industriestaaten nach weltweiter klima- und umweltpolitischer Nachhaltigkeit zurück.

Und gegenüber dem Aggressionskrieg, den Russland gegen die Ukraine begonnen hat, und gegenüber dem Massaker der Hamas in Israel, „stünde nun der Westen auf der Seite der Ukraine und Israels, während China, Russland und der globale Süden auf der anderen stünden“, stellt der ehemalige Vizekanzler und Außenminister Joschka Fischer fest. *2)

Wie kann das sein? Es stellt sich die Frage, warum selbst jahrzehntelange  Entwicklungshilfe bzw. Entwicklungszusammenarbeit nicht zu einer engeren politischen Partnerschaft zwischen dem demokratischen “Westen“ und dem “globalen Süden“ beigetragen hat.

2. Bilanz der Entwicklungspolitik — ein Erklärungsansatz?

Für den Versuch einer Erklärung empfiehlt sich die Lektüre eines Beitrags mit einem ehrgeizigen Ziel: Analyse von 50 Jahren Entwicklungsländerforschung im Rahmen der “European Association of Development Research and Training Institutes (EADI)“ *3)

Den Autor, Dr. Treydte, qualifiziert für dieses Analyseziel, dass er  langjährig an der Entwicklungsländerforschung mitgewirkt und auch bedeutende Projekte der Friedrich-Ebert-Stiftung in den Entwicklungskontinenten Lateinamerika, Afrika und Asien geleitet hat.   

Dieser Blogbeitrag stellt sich nicht die Aufgabe, die Untersuchung Treydtes über die EADI und ihre seit 1975 alle drei Jahre durchgeführten Konferenzen zur Entwicklungsländerforschung überprüfend zu besprechen.

Vielmehr ist zu fragen, ob die abschließende Bewertung der Entwicklungspolitik Europas durch Treydte, die von J. Fischer beklagte Positionierung der Entwicklungs- und Schwellenländer des globalen Südens im geopolitischen Lager Chinas und Russlands erklären könnte.

Die von Treydte analysierten wirtschaftlichen, sozialen, politischen und kulturellen Bestimmungsgründe der Entwicklung münden in folgendes Urteil über die europäische Entwicklungspolitik: *2) S. 110)

„In Anbetracht der wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und gesellschaftlichen Krisen der Welt“ sei jetzt unabweisbar zu fordern: „eine kritische Auseinandersetzung mit insgesamt 50 Jahren abgehobener Theoriebildung, irrigen Politikvorschlägen, ideologischer Verblendung oder kultureller Ignoranz in der Entwicklungspolitik“.

3. Düsterer Ausblick

Eine düstere Bilanz Treydtes über 50 Jahre europäischer Entwicklungspolitik.

Eine düstere Bilanz Joschka Fischers über die Position der Entwicklungs- und Schwellenländer des “globalen Südens“ in der heutigen “Weltordnung“ an der Seite der Autokraten Russlands und Chinas.

Ebenso düster erscheint der mutmaßliche Zusammenhang dieser beiden Bilanzen.

*1) Pionierarbeiten zu den Folgen der Ausplünderung von Bodenschätzen in Entwicklungsländern (“Extraktivismus“) und zum Kampf für “Rechte für die Natur“ und die Menschenrechte für die besonders brutal betroffenen indigenen Menschen sind dem einflussreichen ekuadorianischen Ökonomen und Politiker Alberto Acosta Espinosa zu verdanken. Siehe: Alberto Acosta. Verantwortung heißt, der Wirtschaft ihren Platz zuweisen. 18. November 2020, Quito; https://mutantia.ch/verantwortung-heisst-der-wirtschaft-ihren-platz-zuweisen/

*2) Ex-Außenminister schlägt Alarm. Fischer: „Es fällt schwer, nicht an das Jahr 1914 zu denken“. Von t-online, cck. Aktualisiert am 03.11.2023 – 18:04 Uhr; https://www.t-online.de/nachrichten/deutschland/aussenpolitik/id_100273548/ukraine-und-nahost-krieg-joschka-fischer-schlaegt-alarm.html (Hervorhebung RS)

*3) Klaus-Peter Treydte. „Die ´European Association of Development Research and Training Institutes` (EADI) im Wandel der Zeiten“. In: Armin Triebe und Gerd Ulrich Bauer (Hrsg.) Weltinnenpolitik — gestern und heute — 60 Jahre Sozialwissenschaftlicher Studienkreis für interkulturelle Perspektiven (SSIP) — 1959 -2019. Weißensee Verlag Berlin, Juli 2023; Seiten 83 bis 115.

Nachtrag 10.11.2023

Kommentar Dr. Treydte „Dein EADI-Beitrag“:

„Lieber Reinhold,

vielen Dank für Deinen Hinweis auf Deinen Blog-Beitrag.

Es wundert mich, dass Du meine Beurteilung als „düster“ bezeichnest. Aber ich beschreibe nur die Zustände und urteile kaum. Was ist düster, was ist bright? Bright ist da, wo Du stehst oder wie Deine Perspektiven sind. Lufthansa hat jedenfalls ihre besten Ergebnisse gehabt. Es kommt eben auf die Position an, in der Du in der Gesellschaft oder in der Wirtschaft stehst. Oder wohin Du als Migrant wanderst.

Aber an der Seite von Joschka Fischer und Acosta ist man gut aufgehoben.

Vielen Dank für Deine Würdigung.

Gruß

Klaus“