Zwei Schicksale.

Zwei Gerichte haben gesprochen – über zwei Schicksale besonders gefährdeter Menschen.

Amerika spaltet der Tod des 17-jährigen Schwarzen Trayvon Martin; der Täter, George Zimmerman, der sich auf Notwehr berief, wurde am 13. Juli 2013 durch eine Jury von sechs Frauen freigesprochen.

Viele Bürger in Deutschland erregt ein Gerichtsbeschluss vom 24. Juli 2013, der dem wegen „Gemeingefährlichkeit“ 2006 zwangsweise in eine geschlossene psychiatrische Klinik eingewiesenen Gustl Mollath eine erneute gerichtliche Prüfung seines Falls verwehrt.

Warum wird hier auf beide Menschen geschaut – auf den Amerikaner Trayvor Martin und den Deutschen Gustl Mollath? Wir reden viel und seit Jahrzehnten über transatlantische Wertegemeinschaft. Wir planen sogar eine gemeinsame Freihandelszone. Aber was wissen wir jeweils über Recht und Gerechtigkeit im Partnerland? Das meiste „Wissen“ stellt sich nicht selten als Vorurteil heraus.

Deshalb sehen wir uns beide Schicksale an – das Trayvor Martins und das Gustl Mollaths. Beider Schicksal wird öffentlich erbittert debattiert. Das ist sehr wichtig – Meinungsfreiheit und auch Streit zeigen die Probleme von Gesellschaften und – gerade in diesen beiden Fällen – von Rechtssystemen.

So sehr Streit gerade über Werte, Recht und Gerechtigkeit spalten mag, Streit ist notwendiger Anstoß für gesellschaftliche und politische Veränderung. Aus dieser Sichtweise ist das amerikanische Motto zu begrüßen: „Speak your truth and stand your ground“ (etwa: „Steh` zu Deiner Überzeugung und zu Deinem Wort“).

Dieser Leitsatz ist – wie der Fall des Herrn Gustl Mollath zeigt – in Bayern nicht ungefährlich gewesen. Wegen seiner inzwischen überwiegend als wahr anerkannten Bezichtigung, die mächtige HypoVereinsbank, in der seine Ehefrau als Führungskraft beschäftigt war, verschöbe Schwarzgeld, wurde Herr Mollath seit einem Jahrzehnt strafrechtlich verfolgt. Und durch ein Gericht zwangsweise ins geschlossene Irrenhaus gesperrt.

Dort sitzt Herr Mollath seit 7 Jahren ein. Am 24. Juli 2013 hat das Landgericht Regensburg die Anträge der Staatsanwaltschaft und der Verteidigung auf eine Wiederaufnahme des Verfahrens abgelehnt. Die Mühlen des Rechtsstaates werden weiter mahlen müssen, um Herrn Mollath aus der geschlossenen Psychiatrie zu befreien.

Seine Verteidiger haben am 04. Januar 2013 gegen einen Richter und gegen den Leiter der Klinik für Forensische Psychiatrie in Bayreuth, in der Herr Mollath einsitzt, Strafanzeige wegen des Verdachts der schweren Freiheitsberaubung gestellt. *1) Sie argumentieren und wollen belegen, dass im Falle von Herrn Mollath schon mit der zwangsweisen Unterbringung in psychiatrischen Kliniken „zur Beobachtung“ durch das Amtsgericht Nürnberg in den Jahren 2004 und 2005 gegen die verfassungsrechtlichen Vorgaben für eine Einweisung verstoßen worden sei.

Sie zitieren aus der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 9.10.2001:

„Eine Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus zur Beobachtung kann nicht erfolgen, wenn der Beschuldigte sich weigert, sie zuzulassen bzw. bei ihr mitzuwirken, soweit die Untersuchung nach ihrer Art die freiwillige Mitwirkung des Beschuldigten voraussetzt.

Der hier angestrebten Totalbeobachtung, die Erkenntnisse über die Persönlichkeit des Beschuldigten erbringen soll, die er von sich aus nicht preisgeben will, steht der unantastbare Kernbereich des Persönlichkeitsrechts des Beschuldigten entgegen, der dadurch zum bloßen Objekt staatlicher Wahrheitsfindung gemacht würde, dass sein Verhalten nicht mehr als Ausdruck seiner Individualität, sondern nur noch als wissenschaftliche Erkenntnisquelle verwertet würde.

Das konkrete Untersuchungskonzept muss zudem zur Erlangung von Erkenntnissen über eine Persönlichkeitsstörung geeignet sein, und die Geeignetheit muss wiederum in Gutachten und Beschluss dargelegt werden“.

Diese Vorgaben des BVerfG wurden aus Sicht der Verteidiger Herrn Mollaths, die auch auf einschlägige Kommentierungen verweisen, in den Einweisungsbeschlüssen des Amtsgerichts Nürnberg ignoriert. Es liege sogar nahe zu sagen: Diese Vorgaben „wurden bewusst ignoriert“ (*1), S. 12 ff.; Hervorhebung im Original).

Wie mit Herrn Mollath durch Gericht und Richter umgesprungen wurde, mag ein Zitat aus der Strafanzeige seiner Verteidiger illustrieren:

„In einer ersten am 25.9.2003 durchgefuhrten Hauptverhandlung gegen GustI .. Mollath … übergab die als Zeugin erschienene damalige Ehefrau des Herrn Mollath eine ´ärztliche Stellungnahme für die Geschädigte Petra Mollath`, datierend auf den 18.9.2003. Die Ärztin, eine als Fachärztin der Institutsambulanz der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Klinikums Erlangen tätige Frau Dr. (…) hatte zwar Herrn Mollath zuvor nie gesehen, sah sich aber in der Lage zu diagnostizieren, ´dass der Ehemann mit großer Wahrscheinlichkeit an einer ernstzunehmenden psychiatrischen Erkrankung leide, im Rahmen derer eine erneute Fremdgefährlichkeit zu erwarten sei`“. (*1), S.13)

Wer mag Herrn Mollath verdenken, dass er sich bei solcher Vorgeschichte weigerte, einem „Sachverständigen“ für ein „Explorationsgespräch“ zur Verfügung zu stehen? Für den Richter reichte das. Wegen der „Massivität der Vorwürfe“ und wegen „mangelnder Kooperationsbereitschaft“ sei der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt, wenn er zwangsweise in ein psychiatrisches Krankenhaus eingeliefert werde. Damit die im Strafverfahren vorgebrachte Behauptung einer – wie die Medien heute berichten – kriminell handelnden Großbank, Herr Mollath sei „gemeingefährlich“, begutachtet werde.

Für Herrn Mollath Gerechtigkeit zu schaffen, wird hoffentlich bald durch öffentliche Meinung und Debatte gelingen. Der Druck auf die Politik sollte anhalten. Ebenso die Prüfung durch engagierte Bürger und Juristen, ob eine Reihe von Landesregierungen (s. Blog Gerechtigkeitspolitik 03. März 2013) die Vorgaben des BVerfG vom 20.02.2013 zur Zwangseinweisung und -behandlung psychisch Kranker in angemessene Landesgesetze umgesetzt haben.

Der Hannoverschen Allgemeinen ist zuzustimmen, wenn sie fordert, „dass man sich grundsätzlich Gedanken darüber macht, ob zu viele Menschen zu leichtfertig in die Psychiatrie geschickt werden. Mehr als 6700 Einweisungen hat es im vergangenen Jahr gegeben, doppelt so viele wie noch vor zwanzig Jahren. Müssen wir wirklich so viel Angst vor diesen Menschen haben? Nach der Bundestagswahl gehört eine Reform des Psychiatrie-Paragrafen auf die Tagesordnung der Politik“ (Deutschlandradio Presseschau, 25. Juli 2013).

Der ehrenwerte, aber für Herrn Mollath so folgenschwere Grundsatz „speak your truth and stand your ground“ hat in den Vereinigten Staaten eine juristische Dimension, die den jungen Trayvor Martin am 26. Februar 2012 in Sanford, Bundesstaat Florida, das Leben kostete.

In Florida wie in etwa 30 der 50 US-Bundesstaaten gelten nämlich sogenannte „Stand-Your-Ground“-Gesetze. Sie erlauben einem Menschen, „Gewalt bis hin zu tödlicher Gewalt anzuwenden, um sich gegen einen rechtswidrigen Angriff zu wehren. Sie setzen die im amerikanischen Recht etablierte Pflicht außer Kraft, vor einem Einbrecher oder Angreifer zurückzuweichen, bevor man zu ´defensiven Maßnahmen greift, die eine andere Person töten oder schwer verletzen sollen oder dieses verursachen können`“(Wikipedia). *2)

Wie wird die Tragödie der Nacht des 26. Februar 2012 für das Opfer, den jungen Trayvor Martin, und wohl auch für den Täter, George Zimmerman, in den USA debattiert?

Der Freispruch für Zimmerman und – wie behauptet wird – Kommentare des Präsidenten Obama hätten zur Eskalation des amerikanischen Rassenkonflikts beigetragen. Präsident Obama hatte geäußert: „If I had a son, he´d look like Trayvon“. „If Trayvon Martin was of age and armed, could he have stood his ground on that sidewalk?“ Und: „Trayvon Martin could have been me“ sowie „the black community is looking at this issue through a set of experiences and history that doesn’t go away.“ *3)

Sehen wir von Aufrufen zu Gewalt oder zu Massenprotesten ab. Zitieren wir Stimmen intellektuell bedeutender liberaler oder konservativer Persönlichkeiten (Übersetzung RS).

Catherine Wiley, Assistant Professor of English. *4)

„Seit Trayvon Martin getötet wurde und vor allem seit dem Urteil, das den Täter freisprach, habe ich mich gefragt, was es bedeutet in einer Gesellschaft weiß zu sein, in der noch immer Rassenkonflikte vorherrschen.“ (Hervorhebung RS).

Charles Wade Barkley, einer der besten Basketballspieler aller Zeiten. *5)

„Gut, ich war mit dem Urteil einverstanden. Mit tut es leid um den Jungen, der getötet wurde. Aber sie hatten nicht genügend Beweise, die ihm (Zimmerman) hätten angelastet werden können … Rassismus in jeder Form ist falsch … wenn die Leute über Rassismus reden, sagen sie, nur Weiße sind Rassisten. Es gibt viele Schwarze, die Rassisten sind. Und ich glaube nicht, dass die Medien eine weiße Weste haben.“

Mark Reed Levin, Rechtsanwalt, unter Ronald Reagans Präsidentschaft Generalbundesanwalt der Vereinigten Staaten (US Attorney General), Moderator seiner Radio Show. *5)

„Meine Damen und Herren, lassen Sie es mich so festhalten. … Wenn Zimmerman etwas zustößt, gebe ich dem Präsidenten der Vereinigten Staaten die Schuld. Es sind Verrückte unterwegs, die meinen, Gerechtigkeit auf der Straße schaffen zu müssen, weil der Präsident ein paar Dinge gesagt hat.“

Dr. Benjamin Solomon Carson, berühmter Gehirnchirurg, Träger der Presidential Medal of Freedom, 2008 von Präsident George W. Bush verliehen. *5)

„Wer spät in der Nacht allein durch Innenstädte geht und merkt, dass ihm jemand folgt, der gerät in eine ´fight or flight mentality`. George Zimmermann tat das Angemessene, indem er die Polizei anrief. Es kam jedoch zu einer heftigen Auseinandersetzung, einer sehr unglücklichen Situation, George Zimmerman hatte eine Waffe, und es endete in einer Tragödie … Wir dürfen keinen Rassenkonflikt zulassen und außerdem müssen wir aus dieser Situation etwas lernen“. Dr. Carson zufolge ließen sich solche Ereignisse vermeiden, wenn Zimmerman und andere Sicherheitskräfte in Wohngebieten einen „Taser“ (Elektroschock-Waffe) hätten.

Eugene Robinson, Journalist, Washington Post Writers Group. *5)

„Ich kann mir nicht vorstellen, dass es bei vertauschten Rollen der Protagonisten zum gleichen Ergebnis gekommen wäre – wenn Zimmerman das Opfer und Martin der Angeklagte gewesen wäre … Wir sollten ehrlich über ungelöste Rassenprobleme sprechen … aber Präsident Obama ist nicht die bestgeeignete Persönlichkeit, um diese Diskussion zu führen. Ohne eigenes Verschulden könnte er die dafür am wenigsten geeignete Person sein … Es hat sich bisher gezeigt, dass ehrliche Worte Obamas über Rassenfragen von vielen Leuten als bedrohlich empfunden werden.“ (For Obama mum (psst, RS) should be the word, a.a.O. 19. July, 2013).

Soweit einige Kommentare, die mich besonders beeindruckt haben. Ich hoffe jedoch, dass Mark Levins Sorge vor und Eugene Robinsons Urteil zu der Wirkung, die von der Intervention Präsident Obamas ausgehen könnte, nicht bestätigt werden wird.

Umso mehr hoffe ich dies, als Präsident Obamas Erklärung zum Fall Trayvon Martin vom 19. Juli 2013 starke transatlantische Impulse zum Umgang mit ethnischen Minderheiten vermitteln kann. Denn der Kern seiner Botschaft ist sein politisches Credo: „For alongside our famous individualism, there’s another ingredient in the American saga. A belief that we’re all connected as one people … there is not a liberal America and a conservative America—there is the United States of America. There is not a black America and a white America and Latino America and Asian America; there’s the United States of America.“ *6)

Präsident Obama stellt in seiner Rede *7) einleitend zwei Positionen klar.

Erstens: „Über die juristischen Aspekte dieses Falls wird viel gestritten werden, aber ich werde dieses Thema den Rechtsanalysten und Experten überlassen.“ Zweitens: „Man ist sich .. der Probleme, die sich jungen Afroamerikanern stellen, durchaus bewusst. Aber es wird meines Erachtens frustrierend, wenn das Gefühl entsteht, dass … dieser Kontext verleugnet wird. Das trägt meiner Meinung nach zu dem Eindruck bei, dass es bei einem weißen Teenager in der gleichen Situation anders abgelaufen wäre – von Anfang bis Ende, sowohl was das Ergebnis als auch die Folgen angeht.“

Deshalb verstehe er, „dass es Demonstrationen, Mahnwachen und Proteste gibt, dass vieles einfach zum Ausdruck gebracht werden muss, solange alles friedlich bleibt. Wenn ich Gewalt sehe, werde ich die Menschen daran erinnern, dass sie damit das Andenken von Trayvon Martin und seiner Familie entehren.“

Und dann stellt Präsident Obama die zentrale Frage: „Was tun wir nun? Wie können wir daraus lernen und einen besseren Weg einschlagen?“ Und zu dieser Frage gibt er einige „produktive“ Hinweise, die in die Agenda seiner Präsidentschaft aufgenommen werden.

  • Das Justizministerium, die Gouverneure, die Bürgermeister und die  Strafverfolgungsbehörden sollten zusammenarbeiten, um durch Bildungsmaßnahmen den Mangel an Vertrauen in das System der Verfolgung von Straftaten auszuräumen.
  • Bundesstaatliche und kommunale Gesetze sollten auf die Möglichkeiten überprüft werden, Tragödien wie die um Trayvon Martin zu verhindern. Der Anwalt Zimmermans habe zwar die „Stand Your Ground“-Gesetze Floridas bei der Verteidigung nicht angeführt. Aber wenn die Gesellschaft erlaube, dass „jemand, der bewaffnet ist, das Recht hat, diese Waffen zu nutzen, auch wenn es einen anderen Ausweg aus der Situation gegeben hätte – trägt dies dann dazu bei, den Frieden, die Sicherheit und die Ordnung zu schaffen, die wir uns wünschen?“
  • Ein langfristig angelegtes Projekt einrichten, das junge Afroamerikaner fördern und stärken kann. Das Unternehmer, lokale Amtsträger, Geistliche, Stars und Sportler zusammenbringt, um jungen Afroamerikanern zu vermitteln, dass sie gleichberechtigt zur amerikanischen Gesellschaft gehören, „und dass es für sie Wege zum Erfolg gibt.“
  • Aufruf an Politiker, Menschen in Familien, Kirchen und an ihren Arbeitsplätzen, das eigene Gewissen zu prüfen. Sich selbst die Frage zu stellen, was man gegen eigene Vorurteile tut: „Beurteile ich die Menschen … nicht nach ihrer Hautfarbe, sondern nach ihrem Charakter?“

Zwei Gerichtsurteile, zwei Schicksale der Menschen Trayvon Martin und Gustl Mollath haben viele Amerikaner und viele Deutsche bewegt. Gerechtigkeit haben beide nicht gefunden. Trayvon Martin wird sie nie mehr zuteil, er hatte die falsche Hautfarbe. Gustl Mollath darf noch hoffen, nicht weil er den richtigen Charakter hat, sondern weil Wahlkampf ist.

Auf beiden Seiten des Atlantik stellt sich uns Bürgern die Frage des Präsidenten Obama: Was können wir tun?

Der Bürgermeister der ethnisch besonders stark gespaltenen Stadt Philadelphia, Michael Nutter, sagt uns allen: „Wir können die Verhältnisse ändern – das weiß ich. Die Frage ist, sind wir dazu bereit? Sind wir wirklich willens, unser Ego zu überwinden, empfindsam auf Dinge zu achten, die eigentlich keiner von uns genau wissen will? Gerade jetzt müssen wir es versuchen …“ *8)

*1) www.strate.net/de/dokumentation/Mollath-Strafanzeige.

*2) Vor dem Reflex des Fingerzeigens auf die USA sollte reflektiert werden, was unser deutsches „Notwehrrecht“ hergeben kann.

*3) U.a. www.cbsnews.com/video/watch/?id=50151256n; 19. Juli 2013.

*4) www.huffingtonpost.com/catherine-wiley/; 22.07.2013.

*5) http://www.realclearpolitics.com/; 18. und 19.07.2013.

*6) Barack Obama: Keynote Address at the 2004 Democratic National Convention; www.britannica.com/blackhistory/article-9442554.

*7) Amerika_Dienst: Erklärung von US-Präsident Barack Obama zum Fall Trayvon Martin, 22. Juli 2013.

*8) TIME, July 29, 2013, Viewpoint Michael Nutter, S.18.